Aufstand für das totale Realitätsprinzip

Uli Krug instrumentalisiert den Narzissmusbegriff

Spätestens seit der Corona-Krise ist unabweisbar geworden, dass auch antideutsche Ideologiekritiker, die ansonsten gern die Verzivilgesellschaftung des Staates beklagen und das Mitmachertum von Intellektuellen denunzieren, immer häufiger selbst reden, als wären sie Mitglieder der Regierungskoalition, Team Adorno im Ehrenamt. Leider ein besonders gutes Beispiel für diese Tendenz ist das jüngst in der Edition Tiamat erschienene Buch Krankheit als Kränkung von Uli Krug. Im ersten Teil seines Buches, in dem er aus Anlass der Corona-Krise die historische Entstehung von Epidemien und Pandemien behandelt, diagnostiziert der Autor, dass die entgrenzte globale Dynamik der »neuen internationalen Arbeitsteilung« die Verelendung ganzer Regionen zur Folge habe, in denen sich durch mangelnde Hygiene, Umweltzerstörung, moderne Viehwirtschaft und aus der Not geborene Essgewohnheiten Viruserkrankungen aller Art entwickelten und ausbreiteten. Dadurch, dass mit den modernen Transporttechnologien auch die modernen Erreger mobil würden, schlügen die Folgen des Elends der Welt nun auf die westlichen Metropolen zurück. Covid-19 wird dabei von Krug als das »Virus der Wahrheit über die neoliberale Revolution der vergangenen gut vier Jahrzehnte« (37) aufgefasst.[1] Die erkenntnisbringende Rache der Natur werde so schnell nicht enden, denn es dürfte »keine nachpandemische Zeit mehr eintreten, die nicht zugleich wieder eine vorpandemische wäre.« (43 f.) Zwar gingen ähnliche Versuche, die Zukunft vorherzusagen, in der Vergangenheit immer krachend schief, aber dem Leser wird so zumindest rhetorisch deutlich gemacht, dass hier unter dringlichsten Bedingungen gemahnt und gewarnt wird.

Krugs Fokussierung auf die Genese von neuartigen Viruserkrankungen, die zumeist entweder auf den Kontakt von Wild- und Nutztieren im Rahmen der industriellen Massentierhaltung zurückgehen (Schweinegrippe, Vogelgrippe etc.) oder auf den menschlichen Verzehr von Wildtieren aufgrund des mangelhaften Zugangs zu sicheren Proteinquellen (HIV, Ebola), ist insofern bemerkenswert als die Entstehungsgeschichte des neuartigen Coronavirus keineswegs bekannt ist. Bis heute ist kein tierischer Wirt ausgemacht worden, von dem aus das Virus auf den Menschen übergesprungen sein könnte. Die nicht nur unter Wissenschaftlern diskutierte Hypothese, wonach das Virus aus einem mit Gain-of-function-Forschung befassten Labor in Wuhan herausgetragen worden sein könnte, wird von Krug als »abwegige Spekulationen über einen Laborunfall mit einer Biowaffe[!]« bezeichnet: »Die Laborthese verdunkelt obendrein den Blick auf die Genese der neuen Epidemien, sie verharmlost sie nachgerade« (34 f). Krug kanzelt die Laborthese als Verschwörungstheorie ab, weil damit die Entstehung des Coronavirus nicht in eine Reihe mit den makroökonomisch erklärbaren Spillover-Prozessen im Falle anderer Viren erklärbar wäre, und seine langen Ausführungen etwa über die Gefahren der Fleischproduktion damit hinfällig würden. Seinerseits verdunkelt er, dass es nicht das erste Mal wäre, dass die Impfstoffforschung selbst zu einem Virusausbruch geführt hätte: Der erste Ausbruch des mit Ebola verwandten Marburg-Virus, das bis heute Menschenleben kostet, fand in einem virologischen Forschungslabor statt.

Der Untertitel des im Frühjahr erschienenen Buches – Narzissmus und Ignoranz in pandemischen Zeiten – wiederholt und affirmiert die politisch durchgesetzte Priorisierung von Viruserkrankungen gegenüber anderen ökonomisch bedingten Gesundheitsbelastungen und deutet bereits an, wie der Autor die ohnehin marginalisierten Kritiker der Corona-Maßnahmenpolitik ins Visier nimmt: Er pathologisiert sie pauschal mittels dreister Indienstnahme eines vulgarisierten psychoanalytischen Vokabulars als »Narzissten«, die moralisch nichts anderes denn »Ignoranten« sein können und reproduziert damit genau die trübe Mischung aus autoritärer Politik und repressiver Moral, die den Diskurs über Gesundheit und Hygiene hierzulande seit zwei Jahren konkurrenzlos dominiert. Mit seiner im Wesentlichen moralischen Weltökonomiekritik ist er im Lager der postmodernen Globalisierungskritik angekommen, das miese Arbeitsbedingungen aus sicherer Entfernung lautstark anprangert, aber daheim nur die Dekadenz wohlstandverwahrloster Ignoranten entdeckt. Dieser weltretterische und antinationalistische Gestus vermittelt nicht nur altruistische Gesinnung. Das ostentative Interesse an fernen Ländern und Konflikten bei gleichzeitigem Beschweigen der sich auch und vor allem in Deutschland verrohenden Verhältnisse hat auch den Effekt, dass man mit keinerlei negativen Reaktionen auf die eigenen affirmativen Auslassungen zu rechnen braucht.

Durchhalten im Team Stillstand

Der in Deutschland trotz aller Beschwichtigungen nicht endende gesundheitspolitische Ausnahmezustand wird von Krug überdies, einem Mittelschichtstrend der vergangenen Jahre folgend, als Chance zum Umdenken im Namen von Entschleunigung und Nachhaltigkeit interpretiert. So preist er auf der Sonderseite »Stillstand« auf der Webpräsenz ausgerechnet des Goethe-Instituts, einer der übelsten Zivilgesellschaftsagenturen der Nation, die menschenfreundlichen Potentiale einer entgrenzten Ökonomie, die die auf Dauer gestellte Einschränkung basaler Freiheitsrechte als probate Mittel zur heilsamen Sänftigung des Neoliberalismus entdeckt hat: »Die Corona‑Pandemie nötigte den neoliberalen Staat ganz wider seine Bestimmung, Passivität und Rücksichtnahme zu verordnen, also die Ellenbogen einzufahren und am besten auf dem Hintern sitzenzubleiben. Die zeitweise Sistierung des alltäglichen Kleinkriegs aller gegen alle von Staats wegen barg ungeahnte Potenziale.«[2]

Nur harmlos sind Krugs besinnliche Notizen für Burnout-gefährdete Akademiker, die sich vom längeren Herumsitzen in den eigenen vier Wänden ein bisschen mehr Lebenssinn erhoffen, allerdings nicht, denn das von der kurrenten Trostlosigkeit des eigenen Lebens herrührende Bedürfnis nach totalem Stillstand soll im Namen von Vernunft und »Realitätsprinzip« auch über alle anderen staatsautoritär verhängt werden. Auf die diktierte Unterbrechung des Alltags setzen indes nicht nur Linke, die den eigenen Sicherheitsfimmel mit dem Ziel einer lückenlos betreuten Gesellschaft zum politischen Programm erheben. In ihrer Gesinnungsschrift für dynamische Führungskräfte und deren Untergebene, Covid-19: Der Große Umbruch, werben Klaus Schwab und Thierry Malleret noch ein bisschen rührender als Uli Krug dafür, die unter Brechung elementarer Rechtsgrundsätze und mithilfe staatlichen Mobbings erzwungene Atomisierung der Individuen zum psychosozialen Empowerment umzuwerten: »Die Krise hat uns bewusster und sensibler für die wirklich wichtigen ›Zeitmarker‹ gemacht: die kostbaren Momente, die wir mit Freunden und unseren Familien verbringen, die Jahreszeiten und die Natur, die vielen kleinen Dinge, für die man sich etwas Zeit nehmen muss (z. B. das Gespräch mit einem Fremden, das aufmerksame Lauschen auf Vogelgesang oder das Betrachten eines Kunstwerks), die aber alle zu unserem Wohlbefinden beitragen.«[3]

Konformismus mit Adorno und Freud

Die staatlich verordnete, aber irgendwie vom Virus persönlich befohlene solidarische Entschleunigung im Namen von Rücksicht und Anerkennung werde aber, sekundiert Krug, leider von krankhaften Realitätsleugnern hintertrieben, die obendrein zur Militanz neigten. Mit seiner Wutschrift gegen die Gegner der herrschenden Corona-Politik liefert er sich selbst und all denen ein Alibi, die den eigenen Konformismus »in pandemischen Zeiten« mithilfe kritischer Theorie rationalisieren und ihre Gegner als gefährliche Irre stigmatisieren wollen. Dass dieser Trick zu funktionieren scheint, zeigen die durchweg positiven Reaktionen auf das Büchlein nicht nur seitens Antideutscher, sondern ebenso vom Neuen Deutschland bis zum Deutschlandfunk, die allesamt begeistert sind, dass endlich auch ganz offen jemand aus dem ideologiekritischen Milieu mit Adorno und Freud im Gepäck für die viruspolitische Bevölkerungskontrolle in die Bresche springt.

Der desolate Zustand der Welt wird von Krug nicht bestritten, doch als Hauptursache und Treiber der zeitgenössischen Misere werden die Vergesellschafteten selber ausgemacht, die die Potentiale der Aufklärung nicht sachgemäß nutzten, sondern angesichts der undurchschauten gesellschaftlichen Objektivität stets verlockt seien, in kindliche, mithin von Eigennutz und Rachsucht beherrschte Entwicklungsstadien zu flüchten. Krug will nicht nur darauf hinaus, dass der Fortschritt misslingt, ihn stört überdies, dass mit den notorischen Naturwissenschaftsmuffeln kein Staat zu machen ist: »Die Paradoxie des Fortschritts – kurz gesagt: Mathematik anzuwenden, ohne den Mumpitz zu entkräften – mag den Hang zur Regression erklären, legitimieren tut sie ihn nicht.« (64) Aus der Beobachtung, dass noch immer nicht die gesamte Bevölkerung den Corona-Maßnahmen der deutschen Regierung widerspruchslos gehorcht, folgert Krug, dass eine solch störrische Verweigerungshaltung psychodynamische Gründe haben müsse, die sich mit ökonomischen Krisen allein nicht erklären lassen. Um seine Apologie des deutschen Notstandsregimes theoretisch zu begründen, amalgamiert Krug Versatzstücke dessen, was einmal Kritik des Postnazismus hieß, mit zur Phrase herabgesunkenen Begriffen der Psychoanalyse, insbesondere mit dem zur Küchenpsychologie banalisierten Narzissmusbegriff. Die narzisstische Verfasstheit der zeitgenössischen Subjekte, die sich im deutschen Sozialcharakter aus unklar bleibenden Gründen besonders borniert zeige, verunmögliche demnach eine »sachadäquate« Prüfung der gesellschaftlichen Realität, deren (Notstands-)Regeln Krug kurzerhand mit dem Freudschen Realitätsprinzip gleichsetzt, statt sie an diesem zu messen. Unbewusst sehnten sich die von dieser Realität Überforderten nach Verschmelzungs- und Allmachtzuständen, die in der psychoanalytischen Literatur als »primärer Narzissmus« beschrieben werden. Psychoanalytisch ist darunter eine frühkindliche Phase der Subjektkonstitution zu verstehen, in der das Ich noch undifferenziert vom Es ist und in der der Säugling seine gesamte Triebenergie auf sich selbst richtet, wobei eine Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem (mütterlichen) Objekt noch nicht stattfindet. Diese Mutter-Kind-Dyade wird im weiteren Verlauf notwendig gestört und der Realitätseinbruch muss zwecks Unlustvermeidung libidoökonomisch kompensiert werden. Weil die Außenwelt, die an diesen Realitätseinbruch erinnert und ihn stets aufs Neue evoziert, das gereifte Subjekt eben deshalb ein Leben lang kränkt, drängt es dieses zur (sekundär-)narzisstischen Regression, dem unbewussten Wunsch, neue Erfahrungen imaginärer Vollkommenheit zu schaffen, die wiederum mit der Realität in Konflikt geraten. Infolgedessen tendiert das narzisstisch gekränkte Subjekt zur Herabwürdigung der Außenwelt und zur Mobilisierung archaischer Mutterrepräsentanzen gegen die Zumutungen der Vergesellschaftung. Dieses Modell, das zunächst eine darstellende Deutung der psychogenetischen Vermittlung zwischen Subjekt und Gesellschaft ist und keine moralische Wertung impliziert, vermischt Krug mit Versatzstücken der kritischen Theorie, um daraus eine sozialkritisch camouflierte Apologie des Corona-Regimes als Avantgarde der Zivilisation zu basteln:  In »pandemischen Zeiten« sei »von einer Art Drang aus[zu]gehen, sich prinzipiell freizumachen vom ›Vorrang des Objekts‹ (Adorno), von den Konsequenzen der Logik, wie von den Zumutungen des Realitätsprinzips, das dem Individuum die Vorstellung seiner Größe, Macht und Einzigartigkeit nimmt.« (68)

Während Adorno mit »Vorrang des Objekts« eine erkenntnis- und philosophiekritische Kategorie vorschlug, die nicht positiv bestimmbar, sondern »nur durch die Kritik der falschen Vermittlung als ein Schattenbild zu modellieren«[4] sei, und die unreglementierte Objekterfahrung als Fähigkeit des reflektierten, dem Begriff individueller Freiheit die Treue haltenden Subjekts zu denken erlaubt, statt sie gegen dieses Subjekt auszuspielen, gibt Krug den Vorrang des Objekts als pädagogisches Lernziel aus und damit dessen Wahrheitsanspruch preis. Nicht zufällig schließt sein Essay mit einer sozialdemokratischen Lehrersentenz, die nicht völlig falsch, aber in ihrer paternalistischen Institutionenhörigkeit symptomatisch für das Falsche ist, für das sie steht: »Nicht mehr kann es darum gehen, sogenannte Kompetenzen zu erlernen, mit denen man sich das Faktische von Fall zu Fall dann – so wenigstens die Theorie – aneignen kann, sondern an und im Stoff wäre zu lernen. Nur deren Durchdringung lehrt den Vorrang des Objekts.« (91) Dass in Krugs gesamtem Buch »das Objekt« einfach mit »Covid-19« identifiziert wird, mit dem Kürzel für einen naturwissenschaftlich vermittelten Gegenstand also, mit einem Terminus, der wie alle Termini selbst im besten Fall nichts anderes sein kann als subjektiv vermittelte Objektivität, nicht »das Objekt« an sich – dieser Kurzschluss, für den jeder Philosophiestudent nicht nur von Adorno ein »mangelhaft« bekommen hätte, fällt weder Krug noch seinen entzückten Lesern auf, die sich über die Bestätigung ihrer vorauseilenden Staatshörigkeit so sehr freuen, dass sie freiwillig aufs Denken verzichten.

Narzissmus als politischer Kampfbegriff

Schon in den narzissmustheoretischen Auseinandersetzungen, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geführt wurden, lässt sich die Neigung feststellen, mit kulturkritischer Hybris abweichendes Verhalten per se als narzisstisch zu etikettieren. Über den in der psychoanalytischen Literatur ubiquitär verwendeten Begriff des Narzissmus heißt es bereits 1983 in einem Sammelband des Psychoanalytischen Seminar Zürich spöttisch: »Man findet ihn in der Frigidität ebenso wie in der weiblichen Anziehungskraft. Man meint er könne destruktive Tendenzen neutralisieren, gleichzeitig aber auch eine Angstquelle für das Ich werden. Er ist imstande, eine Abwehr gegen die Homosexualität aufzubauen und trotzdem sind gerade die Homosexuellen besonders narzißtisch. Schlafen beruht auf einem Rückzug der Libido, und gleichzeitig bedeutet Schlaflosigkeit Flucht eines verstärkten Narzißmus, der sich noch steigern will. Man bedient sich des Narzißmus, um eine längere Tatenlosigkeit zu erklären, und gleichzeitig betrachtet man ihn als Triebkraft des Ehrgeizes.«[5]  Jedoch zog man in der damaligen gesellschaftskritisch geprägten Diskussion über neue, mit der Veränderung der Arbeitsorganisation und der Entzauberung tradierter Ideologien zusammenhängende Sozialisationstypen zumeist psychoanalytische Modelle heran, um sich einen Reim auf die Subjektgenese im nachbürgerlichen Zeitalter zu machen. Wer allerdings heute von Narzissmus spricht, klagt zumeist wütend über die Anderen. Im privaten Gezänk ist es die nun unter missbilligendem Blickwinkel stehende Ex, im Feuilleton haben Finanzmanager, amerikanische Präsidenten und neuerdings auch russische Diktatoren gute Chancen auf Narzissmus-Ferndiagnosen. Unfähig zu Liebe, Empathie und Rücksicht fungiert der Narzisst in solcher Vulgärmythologie als Gegenprinzip zum deutschen Ideal des fürsorglichen und unerbittlich empathischen Solidaritätsmenschen.

Adorno veranschaulichte seinen Befund, wonach nicht wenige »neofreudsche« Formulierungen »auf dem Niveau jener Zeitungsbriefkästen und Populärschriften« liegen, »in denen Psychologie als Mittel zum Erfolg und zur sozialen Anpassung gehandhabt wird«, nicht zufällig am Beispiel des damals schon angesagten Klagens über den Narzissmus, den er als zeitgemäße Form der Regression konzipierte, die sich aber sinnvoll nur als subjektspezifische Seite der objektiven Deprivation beschreiben lasse. In diesem Zusammenhang steht auch Adornos einigermaßen bekannte Anmerkung, dass der Narzissmus als »verzweifelte Anstrengung des Individuums« zu begreifen sei, »wenigstens zum Teil das Unrecht zu kompensieren, daß in der Gesellschaft des universalen Tauschs keiner je auf seine Kosten kommt«.[6] Krug hingegen, dem solche Ambivalenzen fern sind, fasst Narzissmus nicht als subjektive Verhärtung im Zeichen der triebhaften Unlustvermeidung auf, die sich gegen sozialverträgliche Verkehrsformen der Gesellschaft richtet und doch deren Wesen adäquat ist. Narzissmus fungiert bei ihm vielmehr als moralisches Defizit, das sich in einer psychischen Pathologie lediglich äußere. Wenn Krug gegen die »nahezu schrankenlose Selbstbezüglichkeit« (79) der »Wagemutigen, also der Rücksichtslosen« (86) wettert, die es mit der »Freiheit an und für sich« (67) halten und zur »Totalskepsis« (81) neigen, klingt er bisweilen wie jene deutschen Touristen, die sich im Ausland mit unentwegtem Gemecker über nicht ordnungsgemäß getüvte Abläufe und unzuverlässiges Servicepersonal zu Recht unbeliebt machen.

Bei Freud selbst fungierte der Narzissmus gleichermaßen als Normalität und als Pathologie, keinesfalls jedoch als Schimpfwort und Kennzeichen moralischer Verwahrlosung.[7] In der nicht-pathogenen Erscheinungsform des Narzissmus fließen narzisstische Impulse in jenes Ideal mit ein, das der Mensch in sich aufrichtet und woran er sein Handeln misst. »Die Selbstachtung ist Erbin des infantilen Narzißmus, der aufgegeben werden mußte, weil er sich als unrealistisch erwies.«[8] Entscheidend ist folglich, ob der je individuelle Narzissmus der Reflexion zugänglich ist. Während Krug bei seiner Kritik der zeitgenössischen Politik vorrangig psychologisiert und moralisiert, bringt er die behauptete Zunahme narzisstischer Dispositionen immerhin mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einen Zusammenhang, der jedoch vage bleibt. Das Bedürfnis nach narzisstischer Abwehr der objektiven Welt und damit zusammenhängend das Desinteresse an der eigenen Gesundheit und dem Wohl anderer werde von den »postindustriellen Lebensbedingungen« befördert, in denen Isolation und Konkurrenzkampf statt Kooperation herrsche und wo die Abkopplung der Metropolen von der internationalen Waren- und Elendsproduktion für eine Derealisierung der Wirklichkeit sorge und damit für Spinnereien aller Art: »Je unwirtlicher und unbrauchbarer dieses gesellschaftlich Objektive wird, desto stärker die Verlockungen des Selbstbezugs.« (63) Nur wird genau diese Tendenz durch »Stay at home«, Kontaktsperren und Homeoffice auf eine neue Stufe im regulierten Kapitalismus gehoben.

Dass Krug zusätzlich zu seiner Narzissmustheorie, die aus der psychodynamischen Diagnose Freuds ein moralisches Urteil über den Neoliberalismus macht, auch eine den Alpenraum betreffende ethnologische Charakterstudie zum Besten gibt, wonach Bewohner mitteleuropäischer Gebirgsregionen eine spezifische Neigung zur »Wissenschafts- und Staatsfeindlichkeit auf Basis kleinräumiger Autarkie- und Gesundheitsvorstellungen« (49) mitbrächten, verleiht dem Ganzen immerhin unfreiwillige Komik. Einmal soll die Lebensweise in den Metropolen den individuellen Narzissmus und damit die Wissenschafts- und Staatsfeindlichkeit begünstigen, dann wieder sind es die provinziellen Gebirgsregionen, wo der aggressive Rückzug des narzisstischen Alm-Öhis floriert. Egal wo, der Narzissmus boomt und stört den sozialen Frieden der Ängstlich-Braven und Rücksichtsvollen. Was bleibt, sind solche Powersätze für den fremdenfeindlichen Stammtisch der Berliner Post-Ideologiekritik: »Die Beispiele, die jene Annahme ins Auge springen lassen, sind Legion, sie lassen sich in Schweizer Inneralpengemeinden finden, wo der Impfbus sich nicht hintraut, genauso wie im polnischen Riesengebirge oder eben in Südbayern.« (51)

Es wird an keiner Stelle überzeugend dargelegt, ob und inwiefern veränderte Sozialisations- und Interaktionsbedingungen Einfluss auf die individuelle Entwicklung und Triebdynamik nehmen und dazu beitragen, dass die Sublimierung und gesellschaftliche Integration des frühen Narzissmus schlechter gelingt als zuvor. Genau das wäre aber der minimale Anspruch, wenn psychoanalytische Begriffe politisch-diagnostisch gewendet werden sollen. Zumal die verschiedenen psychoanalytischen Schulen – sowohl die objekttheoretischen wie die libidotheoretischen – die triebdynamischen Voraussetzungen narzisstischer Störungsbilder, die mehr umfassen als die Neigung, die Außenwelt zu beargwöhnen – was auf fast alle Störungsbilder aus dem Repertoire der Psychologie zutrifft –, umfassend beschrieben haben. Krug treibt ohnehin kein Erkenntnisinteresse an, sein psychoanalytisches Vokabular dient vielmehr als Instrumentenkasten zur Denunziation politisch unliebsamer Zeitgenossen, deren Pathologisierung den Zweck erfüllt, das eigene Mitmachen nachträglich und präventiv zu legitimieren. Der Vorwurf des mangelnden Gegenstandsbezugs, den Krug seinen Gegnern macht, trifft in Wahrheit auf ihn selbst zu – und dies nicht nur weil er den Narzissmus als entleerten Kampfbegriff gebraucht, sondern auch weil von der Realität, wie sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren erfahren wurde, kaum die Rede ist: Weder kommt das Maßnahmenregime in seinen unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen auf das Alltags- oder Seelenleben zur Sprache noch auch nur die Veränderungen in der Erfühlung, Beobachtung und Messung von Körperleiden oder Krankheitsanzeichen. Die »Realität« tritt nur in Form eines allen drohenden Seuchentodes gegenüber, der der Erfahrung notwendig völlig unzugänglich ist, – oder aber in Begriffen von Makroökonomie und Arbeitssoziologie, die schon »vor Corona« ihre Gültigkeit hatten, aber gerade nicht auf ihre Veränderungen unter dem neuen Regime hin überprüft werden.

Realität und Rationalität

Krug beschreibt eine unter tatsächlich menschenfeindlichen Produktionsverhältnissen gedeihende sozialpsychologische Dynamik. Wo in einer pseudoindividualistisch aufgemotzten Arbeitswelt permanent Selbstverwirklichung statt Lohn gepredigt wird und eine Moralisierung fast sämtlicher Facetten des Erwerbs- und Alltagslebens dominiert, schlagen sich solche Veränderungen auch im Subjekt nieder. Krug jedoch schließt von psychodynamischen Deformationen im Spektrum der Maßnahmengegner (warum jene sich besonders stark bei diesen und nicht bei ihren Opponenten finden, verrät er nicht) auf die Rationalität der Regierungspolitik, in der wiederum die höhere Vernunft des Staates zu sich selbst komme.  Folgerichtig bleibt er bei altbekannten Erzählungen über deutsche Esoterik und Impfgegnerschaft, die dutzende Ideologiekritiker vor ihm schon ausführlicher durchgenudelt haben, hat aber über die politischen Zuspitzungen und Veränderungen des Regierungsverständnisses der Tonanagebenden während der letzten beiden Jahre nichts zu sagen. Dass er die Irrationalität des postbürgerlichen Subjekts nicht als adäquaten Ausdruck einer hässlicher werdenden Welt beschreibt, sondern als Abweichung von der angeblich ausgerechnet in der Krisenpolitik aufbewahrten Restvernunft, bezeugt, dass er es mit der sich radikalisierenden Gesellschaft gegen das Individuum hält, dessen Bereitschaft, sich betrügen zu lassen, jede Polemik verdient hätte. So gilt ihm der Narzissmus nicht als subjektives Korrelat objektiver Trostlosigkeit, sondern als milieuspezifisch begünstigter Mangel an Einsicht in die Notwendigkeit. Dabei redet er einer positivistisch verkürzten Rationalität das Wort, die ein ausgewogenes Urteil über die Vernunft politischer Entscheidungen und Handlungen gerade verhindert.

Überhaupt entsteht neuerdings immer öfter der Eindruck, dass die Dialektik der Aufklärung keine Spuren im Denken ausgerechnet derer hinterlassen hat, die keinen Vortrag mit Adorno-Referenz auslassen und noch die dümmsten Apologien des Bestehenden mit Vokabeln wie »inkommensurabel« und »nichtidentisch« garnieren. Gerade deshalb, also wegen autosuggestiv erzeugter Adorno-Übersättigung, kommt in diesen immer konformistischer agierenden Kreisen kein Mensch mehr auf die Idee, die Aufklärung als Prozess zu begreifen, dem fortschrittliche und destruktive Züge gleichermaßen immanent sind und der in dieser Widersprüchlichkeit zu begreifen wäre; stattdessen ist es en vogue, »die Aufklärung« von allem vermeintlich Gegenaufklärerischen, Irrationalen, Regressiven abzuspalten, um sie mitsamt ihren Institutionen pseudorationalistisch, also aufklärungsfeindlich, zum Fetisch zu erheben. Es sind indessen keine bloßen Fehlentwicklungen, die den auf Produktivkraftentwicklung basierenden Fortschritt sabotieren, sondern es gehört zum Doppelcharakter des Fortschritts, dass unter seiner Regie noch seine emanzipatorischen Momente sich unter bestimmten historischen und politischen Bedingungen ins Gegenteil der feierlich-humanistischen Beschwörungen verkehren, mit denen für sie Werbung gemacht wird, wofür insbesondere die Geschichte der Medizin steht. Die Nazi-Mediziner waren keine Aliens und auch so gut wie nie Homöopathen, sondern rekrutierten sich massenhaft aus der etablierten deutschen Ärzteschaft. Die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass vom bürgerlichen Fortschrittsdenken aufgrund dieser historischen Erfahrung fast nichts übriggeblieben ist, was sich bruchlos verteidigen ließe, lässt Krugs Idealisierung des Realitätsprinzips noch skurriler erscheinen. So richtig – und in der jüngeren linken Geschichte auch notwendig – die »Verteidigung des Westens« auch ist, fällt die Reflexion auf den Gegenstand bei dessen Verteidigung offenbar vor allem unter Antideutschen immer häufiger aus, wodurch sie sich in ein Mittel zur Ablenkung von der Alltagserfahrung einer Welt verkehrt, »die so willfährig dem Gesetz von Regression gehorcht, daß sie eigentlich schon über keinen Gegenbegriff mehr verfügt, der jener vorzuhalten wäre.«[9]

Uli Krugs im Namen des Realitätsprinzips aufgeführter Aufstand gegen die Staatskritik ist im schlechtesten Sinne zeitgemäß: In harten Zeiten kommt es auf Verzicht und Selbstdisziplin an, die nur noch auf ihrer reibungslosen Erfüllung besteht, ohne sich an irgendeinem vernünftigen Zweck zu messen – an jener Vernunft also, für die bei Freud und Adorno das Realitätsprinzip gerade einsteht. Die gesellschaftlichen Mittel sollen nicht zur Verbesserung der Lebensverhältnisse investiert werden, sondern in die Selbstdemontage der Zivilisation zugunsten eines höheren Ziels, zu dessen Erreichung alle in erpresserischer Weise aufgerufen sind. Anders als der zum Sozialdemokraten gewandelte Ideologiekritiker hielt Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur am unauflöslichen Gegensatz zwischen Kultur und Sexualität bzw. zwischen Gesellschaft und Individuum fest, wodurch er die Wahrheit über eine Realität aussprach, in der die Menschen tatsächlich vereinzelt sind und so zu rohen Handlungen auch gegen andere neigen. In aller Ausführlichkeit beschrieb Freud aber auch, was die Kultur dem Einzelnen abverlangt und welche Folgen das hat: »Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen.«[10]

Dieses Wüten gegen die Menschen spielt keine Rolle, wenn es um die als narzisstisch diffamierten Gesellschaften geht (um die von Freud noch ausführlich entfaltete Frage, ob und wie sich psychoanalytische Begriffe überhaupt metaphorisierend auf ganze Gesellschaften anwenden lassen, schert Krug sich nicht einmal am Rande). Die »Freiheitsfreunde«, mokiert sich der Autor, sollten endlich kapieren, was die Experten als Autoritätsinstanzen des Realen ihnen sagen: »Das, was man mit Freud Realitätsprinzip nennt, also die Anerkennung dessen, dass die Welt außerhalb meiner selbst über mich viel mehr vermag als ich über sie, wird an der Naturwissenschaft stellvertretend für die Realität als ganze verworfen, insbesondere an der leibnahen Medizin.« (61) So richtig die Erkenntnis, dass die Schulmedizin der Alternativmedizin vorzuziehen ist, so falsch ist die Ausblendung der spezifischen Rolle, die »der Wissenschaft« in den letzten beiden Jahren zugeschustert wurde und die gerade aus der »leibnahen Medizin« und ihren wissenschaftlichen Apologeten immer mehr eine leib- und menschenfeindliche Sekte macht, deren positivistischer Pseudorationalismus sie weit zeitgemäßer erscheinen lässt, als irgendwelche offen vernunftfeindlichen Wunderheiler es sein könnten. Krugs Parteinahme für »die Realität«, die »über mich viel mehr vermag als ich über sie«, wird dadurch zur Affirmation gesellschaftlicher Ohnmacht und verwandelt Freuds und Adornos Plädoyer für das Realitätsprinzip in Reklame für die zum kollektiven Gesundheitsschicksal hypostasierte zweite Natur. Dadurch ist sie weit eher mit Heideggers »Sein zum Tode« vereinbar als mit Psychoanalyse und kritischer Theorie, bei denen das Realitätsprinzip ebenso wie der »Vorrang des Objekts« Bedeutung als Bewusstseins- und Handlungsformen haben, die über jene zweite Natur aufklären sollten, statt sie als erste zu mystifizieren.

Statt kritische Bemühungen in dieser Richtung zu unternehmen, endet Krug in einem platten Objektivismus, einer Fetischisierung vermeintlicher naturwissenschaftlicher »Tatsachen« und einer spiritistischen Faktenhuberei, die medial ohnehin in Dauerschleife verbreitet wird. Er unterstellt, dass die Zahlen vom RKI die Realität abbilden. Damit jedoch wird er schon von der Wirklichkeit überholt, denn die Zahlen und Folgerungen, die vor kurzem noch heilig waren, werden inzwischen teils regierungsamtlich widerlegt. Mit der nur instrumentell geschätzten Evidenzbasierung beginnt spätestens dann der Zwist, sobald überprüft werden soll, wie wirksam die jeweiligen Maßnahmen waren. Dass die Gefährlichkeit von Covid-19 von Anfang an hysterisch bis lustvoll übertrieben wurde, dürfte heute selbst unter den theatralisch Vorsichtigen kaum noch jemand bestreiten, doch umso weniger wird über die bühnenreifen Peinlichkeiten der letzten beiden Jahre gesprochen. In der Präventionsgesellschaft indes kommt Modellrechnungen immer häufiger mehr Gewicht zu als der Realität, die sie modellieren und die auf der Basis eigener Erfahrungen, mithin: empirisch zu betrachten unter Faktencheckern als renitente Anmaßung gilt. Dies sollte immer dann mit in Betracht gezogen werden, wenn die durchaus berechtige ›Kritik der Meinung‹ ertönt, die es inzwischen ins Standardprogramm der Öffentlich-Rechtlichen geschafft hat. Mehr noch: Die »faktenbasierte« Rationalität, erfüllt immer mehr die Funktion, die herrschende Irrationalität zu bemänteln.

Pathologie der Normalität

Krugs Preisung der Egalität und Entschleunigung im Zeichen des Virus bringt ferner die Tatsache zum Verschwinden, dass die gepriesene Rationalität keinesfalls universell ist. Für Kreativmenschen im digitalen Solobetrieb mag ein Lockdown samt Gemeinschaftssimulation rational sein, auch ökonomisch; für die, die in Kooperation arbeiten müssen, oder raus wollen, um ein paar Kontakte am Leben zu halten, ist er das nicht. Kurzum: Ob die Konformität unter Berücksichtigung des wohlverstandenen Eigeninteresses rational ist, oder ob es sich um ein sinnlos erbrachtes Opfer handelt, hängt vom gesellschaftlichen Status ab. Taktisch, das heißt willkürlich, ist auch Krugs Einsatz des Narzissmus-Stigmas. In Wirklichkeit ist der einsozialisierte Größenwahn mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal von ohnehin allerorts angefeindeten Gegnern der Corona-Maßnahmen. Die einschlägigen Vorwürfe lassen sich weitaus treffender auf Corona-Fanatiker und Maßnahmen-Fans übertragen, die aus einem hypochondrischen Antrieb heraus in schrillen Tönen einfordern, dass wegen ihrer Gefühle, die die Realität sukzessive blamiert hat, am besten gleich alle weggesperrt werden mögen. An Krugs Narzissmus-Konzeption ist hierbei auffällig, dass er nur die narzisstische Abwehr der Realität thematisiert. Die Idealisierung von Führungspersönlichkeiten und Institutionen, die in gesellschaftstheoretischen Narzissmustheorien beschrieben wurde, kommt bei ihm nicht vor. Denn spätestens dann würde auffallen, dass die Tendenz zur Befindlichkeitsfixierung gerade in jenen Milieus am weitesten verbreitet ist, die den Maßnahmen der Regierung blind gefolgt sind und beim Lauern auf Abweichungen noch erfinderischer waren als die den Apparaten direkt Unterstellten. Adorno etwa, auf den Krug sich bezieht, ging es gerade um die problematische Harmonie zwischen dem herrschenden Realitätsprinzip und dem Narzissmus als der vorherrschenden Form der Regression, nicht um die Moralisierung abweichenden Verhaltens. Auch heute erweisen sich Verhaltens- und Denkweisen, bei denen die primär-narzisstischen Strebungen nicht in Konflikt mit den herrschenden Ansagen geraten, als die vorrangigen. Zeitgemäß sind nicht die notorischen Grantler, sondern die sich dauernd aufs Neue unterhakenden Guten, die aus jeder Scheiße Gold machen, denen die schleimige Apologie der postmodernen Lebensbedingungen zur zweiten Natur geworden ist und bei denen die Feier der eigenen Überlegenheit stets einhergeht mit der Denunziation von Verweigerern. Dieser Typus ist auch der Adressat der zeitgenössischen Propaganda hierzulande, die keine sein will. Die Ersetzung primärer Allmachtsphantasien durch das kulturell bzw. gesellschaftlich vermittelte »Idealich« beschrieb schon Freud wie folgt: »Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoss. Der Narzissmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheit befindet«.[11] Auf diese Weise kann es dem Individuum gelingen, die »narzisstische Vollkommenheit seiner Kindheit« zu retten, ohne zwangsläufig in einen Konflikt mit kulturellen Normen und Autoritäten zu geraten. Dadurch, dass das Individuum sich selbst zum Teil dieser höheren Sache macht, ist es ihm möglich, an der halluzinierten Allmacht gängiger Vorgaben zu partizipieren. Das post-autoritäre ich-schwache Individuum erfährt so einen doppelten »psychischen Gewinn«: Neben der kollektiv-narzisstischen Erhöhung bietet sich die Möglichkeit auf allgemein akzeptiertes Ausleben zerstörerischer Aggression. Wer jedoch Randgruppensoziologie statt Kritik betreiben will, wer also inmitten einer autoritären bundesweiten Impfkampagne diese mittels redundanter Impfgegnergeschichten nur verdoppelt, wer eine massenhaft gewordene Zwangsneurose verteidigt und gesellschaftlich produzierten Konformismus nicht mal mehr im Ansatz problematisiert, will von der Pathologie der Normalität nichts mehr wissen. Die neue Fixierung auf den Konformismus der Nonkonformisten ist symptomatisch; statt die Krisenpolitik und den als Sachzwang ausgegebenen Systemzwang zu kritisieren, deren Verwalter immer neue Zurichtungsschikanen hervorbringen, arbeitet man sich unter Zuhilfenahme popularisierter Psychodiagnostiken an den widerständigen Impulsen von zumeist harmlosen Leuten ab, deren Aktionen sowieso rund um die Uhr problematisiert werden. Vor nicht allzu langer Zeit wurde der Psychologie vor allem deshalb eine wichtige Rolle zugebilligt, weil die Menschen in ihrer Mehrheit das ihnen Diktierte unter Aufwendung diverser Abwehrmechanismen zu ihrer Sache machen, um leben zu können, es ging um die Kritik der Vormacht des Allgemeinen und den falschen Schein der Versöhnung. In Zeiten, in denen es für die steigenden Zumutungen immer weniger materielle Entschädigung gibt und die Aufstachelung zum Opportunismus zum guten Ton gehört, wäre es umso wichtiger, sich der Frage zu widmen, was die meisten zum Mitmachen drängt. In der Form der »Identifikation mit dem Angreifer« richtet sich die Libido der Ohnmächtigen, die mit infantilen Ritualen bei der Stange gehalten werden, auf die sie umgebenden Institutionen, Propagandawörter, Waren und Beziehungen. Die permanente Propaganda zur moralischen Überlegenheit »unserer Werteordnung« bietet dem fragilen Ich die Möglichkeit, an einer Vollkommenheit zu partizipieren, die dem idealisierten Objekt zugeschrieben wird. An diesem Menschheitsprojekt teilzuhaben und so die Kluft zwischen Realität und Ideal zu überwinden, worin das Triebziel der narzisstischen Projektion besteht, scheint verlockend. Im alltäglichen Lebensvollzug wird eingehämmert, dass »wir« dem Guten dienen, dass die Versöhnung, die nicht vollbracht ist, vollbracht sei – sonst würde die bewährte Kombination aus lächerlichen Moralkampagnen und dilettantischer Politik, die als spezifisch deutsch bezeichnet werden kann, nicht funktionieren.

Das Ende der Kritik

Der im Kontext der Transformation des Sozialstaats vorgetragene sozialdemokratische Klagesang, der sich um »die Menschen«, wie es im verallgemeinerten Sozialarbeitersingsang heißt, sorgende Staat werde abgeschafft, hat mit der gesellschaftlichen Realität nichts zu tun. Dass die Staatsapparate mit ihren seit zwei Jahren in ungewohnter Skrupellosigkeit unternommenen Versuchen, den Alltag der Bürger bis ins Intimste hinein zu kontrollieren und obrigkeitsstaatlich zu reglementieren, weitgehend widerstandslos durchgekommen sind, scheint Krug nicht zu bekümmern. Er hätte es sogar gern noch härter: Die »geflickschusterten, zerlöcherten und von Provinzfürsten aller Art unterlaufenen Covid-19-Maßnahmen in Deutschland« müsse man als »Ausfluss eines ausgeprägten Regulationsunwillens, beseelt von dem Wunsch, möglichst rasch zum bislang gewohnten Geschäftsmodell zurückzukehren verstehen«. (67)  Auf die Idee, dass der Modus des Regierens im Zeichen der permanenten Mobilmachung (Flüchtlinge, Klima, Corona, jetzt Energie) im Westen dazu beiträgt, dass die Ordnung der »Neuen internationalen Arbeitsteilung« stabil bleibt, kommt er nicht.

Zwar bringt der Staat seine wohlfahrtsstaatlichen Verantwortlichkeiten zum Verschwinden, doch geschieht dies gleichzeitig mit der Ausweitung und Intensivierung von Betreuungs- und Kontrollprozeduren, die darauf setzen, die Ware Arbeitskraft an die Erfordernisse der globalen Konkurrenz und die Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals anzupassen und die gesamte Bevölkerung durch die kontinuierliche »Transformation und Rekonfiguration kapitalistischer Wohlfahrtsstaatlichkeit« auch ideologisch so einzutakten, dass sie lenkbar bleibt. Doch Krugs Gegner ist nicht der beim kapitalkompatiblen Zurichten in der Krise zunehmend willkürlich agierende Staat, es sind dessen Kritiker: »Der Hang zur Verschwörungstheorie – gleich ob in primitiv esoterischer oder elaboriert staatskritischer Form – gehört neben den Kontrollverlusts- und Vergiftungsängsten infantilen Ursprungs darum notwendig zum erwachsenen Narzissmus dazu.« (69)

Hier zeigt sich die Skrupellosigkeit des Autors beim Verramschen des Bildungsguts, das er sich als Kritiker erarbeitet hat und das er nun gegen dessen Wahrheitsgehalt wendet. Der »kritische Kritiker der Maßnahmen«, so der mit seiner Vergangenheit hadernde Krug, gehe noch weiter als die gewöhnlichen Sozialdarwinisten: »Er glaubt, die gesundheitliche Bedrohung als reine Machination des Herrschaftsapparates zu durchschauen, oder er frönt gleich – und das kommt dem tatsächlichen seelischen Antrieb näher – dem vitalistischen Kultus eines Nonkonformisten, der sich von den ›Angstmachern‹ nicht bange machen lässt…«. (80)

Die Suggestion, es gäbe die Angstmacher nur im Kopf von Querdenkern, also von allen Kritikern, ist die Folge des Abschieds von jeder Staatskritik. Dabei lässt man sich von den dilettantischen Auftritten der politisch verantwortlichen Witzfiguren darüber hinwegtäuschen, dass die Maschinerie der Verwaltung auch trotz, vielleicht sogar wegen des eklatanten Dilettantismus des herrschenden Personals weitgehend reibungslos funktioniert. Mehr noch: Seine antifa-moralistischen Analysen bringt Krug in einer Zeit, in der ohnehin jede Kritik als rechtextrem betrachtet wird. Er liefert damit den Tonangebenden, die zum ideologischen Opportunismus anstacheln, die gewünschten Stichworte, die sich in die politische Großerzählung einbauen lassen, wonach es bereits als Verschwörungstheorie zu gelten hat, über Herrschaft zu sprechen und die Form der Maßnahmenpolitik im funktionalen Zusammenhang mit der den Betrieb am Laufen haltenden Regierungs- und Menschenführungstechniken zu betrachten.

Während die zunehmend kontrollierte und regulierte Bevölkerung zum Verzicht angehalten wird und – ohne dass die Profitmaximierung tangiert würde – die minimalen Errungenschaften in westlichen Gesellschaften, die das Leben ein wenig angenehmer machen, zum unnötigen Zierrat erklärt werden, den es vor allem den unteren Schichten auszutreiben gelte, warnen die dafür Zuständigen vor einer politischen Radikalisierung im angeblich kommenden Wutwinter. Die Mahner und Warner könnten entspannter agieren, denn naive Sentimentalität, falsche Solidarität und Speichelleckerei werden weiterhin dazu beitragen, dass das Gute zu siegen nicht aufhört. Und die Anzahl derer, die die Stichworte liefern, wächst. Es wäre keine Überraschung, wenn die Mitglieder des »Teams Stillstand« in ihrem nächsten Eintrag zum Wollpullistricken, Kurzzeitbaden und Kaltduschen gegen Putin auffordern, weil ein bisschen Frieren für die gute Sache genauso zumutbar ist wie das Maskentragen gegen das Virus.

Thunder in Paradise


[1] Uli Krug: Krankheit als Kränkung. Narzissmus und Ignoranz in pandemischen Zeiten, Berlin 2022. Im Folgenden mit Seitenzahl in Klammer zitiert.

[2] https://www.goethe.de/prj/sti/de/mit/22923372.html

[3] Klaus Schwab; Thierry Malleret: COVID-19: Der Grosse Umbruch, Cologny/Genf 2020, S. 284.

[4] Clemens Nachtmann: »Adornos Orthodoxie. Das Fortbestehen der Revolutionstheorie«, in: Bahamas, H. 22 (1997), S. 48.

[5] Vgl. Judith Valk: »Der Narzißmus in der psychoanalytischen Theorie«, in: Die neuen Narzißmustheorien: Zurück ins Paradies?, Frankfurt a.M. 1983, S. 22.

[6] Theodor W. Adorno: »Die revidierte Psychoanalyse«, in: Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 33.

[7] Vgl. Stefan Breuer: »Sozialpsychologische Implikationen der Narzißmustheorie«, in: Psyche, Jg. 46 (1992), H. 1, S. 1–32.

[8] Judith Valk, a.a.O.

[9] Theodor W. Adorno: »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 289.

[10] Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1999, S. 444.

[11] Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1999, S. 161.

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