Vortrag & Diskussion mit Magnus Klaue (Leipzig)
27. Oktober 2022, 19:00 Uhr, Saalbau Gallus, Frankenallee 111
In dem Fragment »Interesse am Körper« in der Dialektik der Aufklärung stehen die Sätze: »Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem Namen sich anzeigt, war ein Teil des perennierenden Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte. Die Leistungen der Zivilisation sind das Produkt der Sublimierung, jener erworbenen Haßliebe gegen Körper und Erde, von denen die Herrschaft alle Menschen losriß.« Die Verwandlung des Leibes in den Körper ist nicht einfach Resultat schlechter Verdinglichung, Index eines historischen Prozesses, in dessen Zuge die Menschen einander und sich selbst immer stärker wie Sachen behandeln, sondern zugleich konstitutive Bedingung der Selbstlosreißung der Menschen vom Naturzwang: Selbstobjektivierung, die es den Menschen ermöglicht, sich reflektierend dem gegenüberzustellen, als dessen Teil sie sich erkennen, so wie die Natur erst als »Stoff und Materie« Gegenstand reflektierender Erkenntnis werden kann. Dass aus diesem Prozess keine Versöhnung von Natur und Geist, sondern der kollektive Rückfall von Gesellschaft, von zweiter Natur, in die unerhellte erste entsprang, bezeugen laut Horkheimer und Adorno »alle die Werwölfe, die im Dunkeln der Geschichte existieren und die Angst wachhalten, ohne die es keine Herrschaft gäbe: … sie wiederholen in blinder Wut am lebendigen Objekt, was sie nicht mehr ungeschehen machen können: die Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand.«
Seit einigen Jahren nehmen die Werwölfe, die Adorno und Horkheimer noch ohne Scheu davor, zu Schwurblern gestempelt zu werden, zwecks Erhellung der Regression von Aufklärung in Mythos anriefen, wieder konkretere Gestalt an: als Gesundheitsexperten, denen sich alles spontan Lebendige als Gefahrenherd für das zum Kollektivsingular erniedrigte »Leben« darstellt; als Ethikexperten, die Menschen, die nicht mehr leben wollen, den assistierten Suizid enpfehlen; als Sexualitätsexperten, die Minderjährigen, die sich »im falschen Körper« fühlen, die gefühlsanpassende anatomische Korrektur anpreisen; und als Gender-Experten, die es für Aufklärung halten, die Existenz des natürlichen Geschlechterunterschieds zu bestreiten. Nicht zuletzt aber partizipieren an der Wiedergängerei des Naturzwangs Ideologiekritiker, die auf die Verwandlung menschlicher Gesellschaften in behavioristisch selbstgesteuerte Wahnkollektive durch Reanimation der ersten Natur reagieren: die plötzlich wieder von »leibnaher Medizin« reden, statt das widersprüchliche und daher immer auch potentiell feindliche Verhältnis der Medizin zum Leib in den Blick zu nehmen; die das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht als Konkretion des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung begreifen, sondern als anmaßende Selbstermächtigung verwahrloster Narzißtinnen diffamieren; und denen als Antwort auf die Queer-Ideologie nichts einfällt als der Verweis auf durch Biologen faktengecheckte »Naturtatsachen«: Als wäre menschliche Sexualität nicht immer schon historisch vermittelt, als stecke der Sexus unmittelbar in den Organen, die ihn mitkonstituieren, aber nicht mit ihm identisch sind; als wären also die Menschen tatsächlich nichts als die sozialen Tiere, auf die sie zunehmend praktisch reduziert werden.
Die beiden im XS-Verlag erschienenen Bände von Die Antiquiertheit des Sexus, die im Rahmen des Vortrags vorgestellt werden, versuchen der bewußtlosen Allianz von Queer-Ideologie und herabgesunkener Ideologiekritik eine Kritik entgegenzusetzen, die jene Allianz zu verstehen erlaubt.
Magnus Klaue ist freier Autor und arbeitet zurzeit an einer Biographie über Max Horkheimer.
Eintritt: 3€.