Die schöne neue Welt der Postnormalität

Einleitungstext zu unserer gleichnamigen Konferenz, die am 3. Juni 2023 in Frankfurt a.M. stattfindet.

Zum Konferenz-Programm…


Am 25. Mai 2023 startet im Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim unter dem Titel »Unhaltbare Zustände« die sogenannte Zweite Marxistische Arbeitswoche. Die Veranstaltung ist als Fortsetzung einer Zusammenkunft von Marxisten und Kommunisten im Jahr 1923 konzipiert, bei der sich unter anderen Richard Sorge, Friedrich Pollock, Georg Lukács, und Karl August Wittfogel in einem Thüringer Bahnhofshotel mit den »Behandlungsarten des gegenwärtigen Krisenproblems« sowie Fragen der marxistischen Methodik und Organisation beschäftigt haben. Das in diesem Jahr stattfindende Remake mit Deutschlands populärstem Heimatkritiker Thomas Ebermann als Headliner klingt nach fast drei Jahren verordnetem Stillstand, der an deutschen Universitäten bereitwillig hingenommen wurde, bemerkenswert kämpferisch. Anlass für die Vortragsreihe ist das 100-Jahre-Jubiläum des Instituts für Sozialforschung (IfS), dessen Leitung sich im Festjahr zum Ziel gesetzt hat, zurückzublicken und Bilanz zu ziehen, um zwecks Neuorientierung aktuelle »gesellschaftliche Krisenphänomene« umfassend in den Blick zu nehmen.

Utopische Räume

Anders als sein Vorgänger Axel Honneth möchte Stephan Lessenich, der das IfS seit einem Jahr leitet und zuvor vor allem durch an Foucault orientierte Schriften zum aktivierenden Sozialstaat in Erscheinung getreten ist, die Institutsarbeit mit verändernder Praxis verbinden. Schon weil die meisten Anhänger der Kritischen Theorie Gegenwärtiges zumeist nur dann nicht konsequent ausblenden, wenn es um rechte oder als rechts identifizierte Randgruppen geht, spricht vieles dafür, die Kritik der zunehmend autoritär betreuten Gesellschaft zuzuspitzen. Die Ankündigungen der anstehenden Jubiläumsfeiern stehen jedoch derart im Zeichen des Aufbruchs, dass man kein Schwarzseher sein muss, um zu erkennen, dass die »unhaltbaren Zustände« nicht kritisiert, sondern voluntaristisch politisiert werden sollen.

Man hat vor, die »Dynamiken sozialräumlicher Öffnung und Schließung« in der – selbstredend rassistischen – Einwanderungsgesellschaft interdisziplinär, diskriminierungssensibel und weltoffen zu beleuchten und plädiert für gesellschaftspolitische Alternativen, »die die Wiederbelebung [!] von Demokratie an Konzeptionen nachhaltigen Gemeineigentums knüpfen«. Schwer zu sagen nur, ob man dem hirntoten Patienten ein solches Wiedererwachen wünschen soll. Auf die Gunst der Staatsapparate schielend werden »regressive und autoritäre Problemlösungsstrategien« problematisiert, wobei der konformistische Popanz gegen rechts nicht alle Kräfte bindet: Mit »Der utopische Raum« wurde bereits vor einiger Zeit ein »kritisches Forum für zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen« eingerichtet, die »Wege der Transformation in Theorie und Praxis aufzeigen« und die im Jubiläumsjahr als internationale »Vollversammlung« symbolträchtig in der Paulskirche zum Wohle der Menschenrechte tagen werden.

Für das Einfordern von gesellschaftlichen Transformationsprozessen braucht man keine marxistischen Vortragsabende, das tun Politik, Medien und Zivilgesellschaft unisono und tagtäglich, aber es zählt ohnehin zu den Eigentümlichkeiten der Progressiven, dass sie beim Beackern ihrer Lieblingsthemen nicht mal skeptisch werden, wenn sowohl die Inhalte als auch die Form der Darstellung sich von den Verlautbarungen der Regierung nicht mehr unterscheiden. Beim Signalwort »Transformation«, das unter notorischen Erneuerern gebräuchlich ist, sollte man indessen hellhörig werden. Denn damit sind vor allem schöngeredete Zumutungen gemeint, deren Kritik angesichts der behaupteten Dringlichkeit der fixierten »Transformationsprozesse« als gemeingefährliche Indolenz verschrien wird. Das IfS versteift sich nicht auf ein bestimmtes Großkrisenthema, aber die kritiklose Übernahme des Transformationsjargons spricht ebenso Bände wie die Blindheit dafür, dass der Konformismus heute dezidiert anti-konservativ und auf Agilität fixiert auftritt.

Bei der feierlichen Verkündung der Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für das IfS zeigte sich die ebenfalls auf Veränderung abonnierte Ministerin für Wissenschaft und Kunst Angela Dorn begeistert, schon weil mit einer allenthalben befürchteten Staatsdelegitimierung, die ihr bei der Lektüre der Klassiker entgangen sein muss, im Falle der institutionalisierten Kritischen Theorie nicht mehr zu rechnen ist: »Das IfS steht seit Horkheimer, Benjamin und Adorno in einer philosophischen Tradition, die sich nicht damit begnügt, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie auch verändern will – wir brauchen dringend solche Einrichtungen.«[1]

Hinter der Realität herhinken

Das Arbeitsbündnis zwischen dem Land Hessen und dem IfS birgt Potential für allerlei Projekte in der Zukunft. Die Anstrengung des Begriffs, die für Hegel in der Wissenschaft noch unerlässlich war,[2] gehört gewiss nicht mehr dazu. »[J]etzt, wo ich in Frankfurt bin«, erklärt Lessenich vielmehr, »muss ich mit Begriffen der Kritischen Theorie um mich werfen.«[3] Auch das mag anstrengend sein, hat aber mit dem, worum es Hegel ging, nichts mehr zu tun. Wenn Lessenich überhaupt Begriffe der Kritischen Theorie in den Mund nimmt, dann nur, um sie sogleich abzuräumen. Von einem Verblendungszusammenhang, den es zu durchschauen gelte, will er nicht mehr sprechen, sondern lieber von einem »Verstrickungszusammenhang«.[4] Durch solche terminologischen Manöver werden die historischen und ideengeschichtlichen Bezüge eskamotiert, deren Reflexion für Theodor W. Adorno und Max Horkheimer noch als unabdingbar galt.

Mit seinem saloppen Ton grenzt sich der ambitionierte Kritiker heute von der als zu kauzig wahrgenommen Begriffsstrenge insbesondere Adornos ab, der nicht nur als zu kompliziert und detailversessen, sondern vor allem als zu negativ gilt. Der gleichermaßen dramatisierende wie aktivierende Jargon der Transformation, der die öffentliche Diskussion dominiert, ist der kritischen »Zerstörerarbeit« konträr, die Adorno mit Karl Kraus verband.[5] Zur Polemik, so Adorno, disponiere eine historische Situation, in der die Menschen »das ihnen heteronom Auferlegte zu ihrer eigenen Sache machen, um überhaupt leben zu können.«[6] Wo die Subjekte sich den Verhältnissen angleichen und den objektiven Wahn im Stande ihrer Unfreiheit bisweilen subjektiv radikalisieren, fängt Kritik bei der Sprache an.

An prominenter Stelle, nämlich in seiner programmatischen Einleitung in den »Positivismusstreit in derdeutschen Soziologie«, erhob Adorno die Sprachkritik von Karl Kraus in den Rang eines »Modells« soziologischer Praxis: »Die von Kraus entfaltete Physiognomik der Sprache hat darum mehr Schlüsselgewalt über die Gesellschaft als meist empirisch-soziologische Befunde, weil sie seismographisch das Unwesen aufzeichnet, von dem die Wissenschaft aus eitel Objektivität zu handeln borniert sich weigert. Die von Kraus zitierten und angeprangerten Sprachfiguren parodieren und überbieten, was der Research eben nur unter der saloppen Spitzmarke ›juicy quotes‹ durchläßt; die Unwissenschaft, Antiwissenschaft von Kraus beschämt die Wissenschaft.«[7] Die negative Kritik impliziert zugleich die Weigerung, mittels Kommunikation Konsens herzustellen und dort auf Differenzierungsvermögen und Dialogbereitschaft zu pochen, wo es nur darum gehen kann, das Falsche als solches zu bestimmen und zu denunzieren.

Das IfS hingegen ist aus Prinzip offen für befindlichkeitsorientierte Kritik: Im September soll die internationale wissenschaftliche Konferenz »Futuring Critical Theory« zur Standortbestimmung in Bockenheim beitragen, denn: »Einige vermeintliche Gewissheiten der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule« seien im Zuge »wissenschaftlich-politischer Debatten etwa um Post- und De-Kolonialismus, Queer-Feminismus und Neuen Materialismus« grundlegend in Frage gestellt worden. Es gelte deswegen zu prüfen, »ob das normative Rüstzeug der klassischen Kritischen Theorie den gegenwärtigen Verhältnissen noch gerecht werden kann«. Die Erbschaft macht’s möglich: Zur Diskussion werden nicht die eigenen Texte gestellt, die den Verhältnissen, für die man sich »rüsten« muss, zwanghaft »gerecht« sein wollen; als fragwürdig gilt die Tradition, für die man spricht, wenn es gerade ins Zeug passt.

Worauf Post- und De-Kolonialismus – um nur ein Beispiel zu nennen – praktisch hinauslaufen, war erst im letzten Jahr auf der Kasseler Documenta zu bestaunen, wo dem als Israelhass verpackten Antisemitismus ein wahres Volks- und Völkerfest bereitet wurde. Dass die Kritische Theorie nach Auschwitz die historische Erfahrung des Antisemitismus ins Zentrum ihrer Reflexion gestellt hat, macht sie zum schweren Erbe, das sich dann erleichtern lässt, wenn man zum Beispiel mit einem Revival der »Marxistischen Arbeitswoche« an den von der Erfahrung des Nationalsozialismus noch unbefleckten Theoriestand der Zwischenkriegszeit anschließen und das Ganze mit den neuesten identitätspolitischen Moden amalgamieren will.

Nicht mehr normal

In seinem 2022 erschienenen Buch Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs fordert Stephan Lessenich die Überwindung des Alltags-Konservatismus. Immer noch suche die »postnationalsozialistische Gesellschaft« ihr Lebensheil in der »Etablierung einer von den Mittelklassen getragenen Normalität«.[8] So antideutsch ist man in Frankfurt-Bockenheim allemal.

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren der Stolz auf die nationale Produktionsgemeinschaft, das Gefühl, der Nabel der Welt zu sein, und eine Aufgeschlossenheit für Völkisches tatsächlich noch prägend für das Massenbewusstsein, zumal in der Provinz. Die Politik orientierte sich an den Wünschen des zumeist wütenden »kleinen Mannes«, der das ihm Bekannte gegen jedwede Veränderung und Emanzipationsbestrebung stur verteidigte. Die Kritik des Chauvinismus kommt allerdings 30 Jahre zu spät. Heute wird den Leuten nicht mal mehr aus Gründen des sozialen Friedens klassenkompromisslerisch nach dem Mund geredet. Im postmodernen Kapitalismus, in dem die permanente Disruption als »neue Normalität« proklamiert wird, wird ihnen pauschal bedeutet, dass das Beharren auf Gewohnheiten grundproblematisch ist.

Davon unberührt konstatiert Lessenich, dass das gesellschaftliche Ganze sich durch die Alltagspraktiken der beteiligten Individuen realisiert, allerdings ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie sich das gesellschaftliche Reale den Individuen gegenüber als repressive Übermacht objektiviert. Im Zentrum von Lessenichs Normalitätskritik steht folgerichtig die »Wirkmächtigkeit des Wachstumsregimes moderner Gesellschaften«, das zwar mit der »Logik des Kapitalismus« in Verbindung stehe, jedoch von einem »umfangreichen Faktorenbündel« am Leben gehalten werde, das über die bloße Ökonomie hinausgehe.[9] Was ihn umtreibt, ist nicht die Kritik eines abstrakten Ausbeutungsverhältnisses, sondern die Beleuchtung einer seiner Ansicht nach von subjektiver Verantwortungslosigkeit geprägten Normalität in den westlichen Industriegesellschaften, in denen die Leute den Hals nicht voll kriegen: »Denn tief in unserem Innern sind wir Wachstumssubjekte: von Kopf bis Fuß auf das Erreichen des jeweils nächsten Levels eingestellt.«[10]

Um subjektive Faktoren, soziale Gewohnheiten und »kollektive Bedürfniskonstruktionen« geht es ihm vorrangig, weil er sie ändern will. Angesichts der Diskurslage in der Öffentlichkeit verliere die Kategorie des »alten weißes Mannes« den »Beigeschmack billiger Polemik« und erhalte stattdessen einen »kritisch-analytischen Sinn«. So reichen Alter, Geschlecht und Hautfarbe von Menschen aus, um ihnen unabhängig von ihrer Stellung im Produktionsprozess Privilegien unterzujubeln, deren wichtigtuerische Kritik darauf hinausläuft, minoritäre Gruppenidentitäten zu stärken, deren Regelsysteme oftmals weitaus repressiver sind als der hypostasierte allgemeine Normalisierungszwang. Doch der Soziologe lässt sich nichts vormachen: »Denn es sind eben jene typischerweise von hellhäutigen, heterosexuellen, älteren Männern eingenommenen sozialstrukturellen Positionen, die unter bisherigen gesellschaftlichen Normalitätsbedingungen mit einer privilegierten Ressourcenausstattung verknüpft gewesen sind, und zwar in materieller wie in symbolischer Hinsicht.«[11] Jeder Widerspruch gegen Moralismus und Einmischung wird als affektive Aufmuckerei interpretiert. So gilt Lessenich die Negation von Gendersprache als konservativer Kulturkampf, die Existenz des als »Cancel Culture« bezeichneten Aktivismus wird bestritten.

Lessenichs Vorschläge für die Realisierung einer anderen – rundumtransformierten – Gesellschaft beschwören den Staat, der steuern und vorgeben soll – auch und gerade dort, wo von »einer Politik, die sich der Organisation gesellschaftlicher Mitsprache verschreibt«[12] die Rede ist. Die von Aktivisten unterstützte Politikform läuft auf die Verfestigung der Diskurshoheit derjenigen hinaus, die jetzt schon als Zivilgesellschaft den Ton angeben, während eine solche Verzivilgesellschaftlichung des Staates umgekehrt eine intensivierte »Integration von oben« (Adorno) durch die Staatsapparate impliziert.

Konsumistische Rebellion

Ökonomisch wendet Lessenich sich gegen den disruptiven Finanzkapitalismus, der die Normalitätsillusionen erzeugt habe, die in der Gegenwart erodieren. Die Krise des Kapitals will er mithilfe einer demokratisierten Ökonomie der Verwaltung knapper Güter heilen. Die Knappheit gilt als gegeben, ausgeblendet wird der Widerspruch zwischen den technischen Möglichkeiten und deren kapitalistisch verzwecktem Gebrauch. Leuten, die die soziale Frage auch nur stellen, wirft Lessenich vor, an überkommenen Produktionsverhältnissen zu hängen, in denen der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital im Zentrum steht. Das Aufblähen des tertiären Sektors und die Auslagerung der Produktion haben in der Tat dazu geführt, dass nicht mehr die Produktionssphäre als Arena des Politischen erscheint, sondern – zumindest in den post-industriellen Zentren – die Distributions- und Konsumptionssphäre, in der moralisch korrektes Einkaufen der Weltrettung dienen soll.

Verstärkt wird die voluntaristische Sicht auf die Welt durch den Formwandel der Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft, in der die ehemals getrennten Bereiche von Arbeit und Freizeit immer mehr ineinander verschwimmen und vor lauter Emanzipation, Selbstentfaltung und Kreativität der Ausbeutungscharakter der Lohnarbeit ebenso verdrängt wird wie die politische Souveränität, die die Bedingungen der Akkumulation garantiert und deren Exekutoren in den Behörden nur so lange einen freundlichen Ton wahren, wie ein guter Wille beim lebenslangen Bewerben gezeigt wird. In der Folge drängt es die Konsumenten zu politischen Ersatzhandlungen, die den Vorteil haben, dass man sich per Einkaufszettel oder Twitter-Shitstorm zur gesellschaftlichen Avantgarde aufschwingen kann. Der sich kritisch und verzichtsbereit dünkende »bewusste Konsum« ist dabei nur die Kehrseite des hedonistischen Konsumspießertums. Die hochgehaltenen Chimären von »Konsumentenmacht« und Verzichtsagenda spiegeln die objektive gesellschaftliche Tendenz, setzen dem Status Quo der ewigen Selbstverwertung des Kapitals aber nichts entgegen.

Soziologie der Anpassung

Die Auslassungen des Direktors des IfS korrespondieren mit einer regelrechten Schwemme an aktueller Krisenliteratur von penetrant Besorgten. Damit ist auch das »Ideal des Sich-Fügen-Müssens« als krisenpolitisch präformierte Anpassungslehre zurückgekehrt. Es kommt aus einem Milieu der Fortschrittsmenschen, die antinational und postbürgerlich an der bürgerlichen Gesellschaft gerade das kritisieren, was sie von anderen Gesellschaftsformationen positiv unterscheidet. Unter dem Deckmantel der Sorge um den Planeten werden dabei Ideologien unters Volk gebracht, die im linksliberalen Jargon daherkommend betonen, dass es in Zeiten der Krise auf die Allgemeinheit ankomme, der der Einzelne sich gefälligst einzugliedern habe. Im Visier dieses Volkszorns stehen die bestehenden Reste an Freiheit, auf die manche sich noch berufen. Das Leben in der »Welt der Knappheiten«,[13] so Lessenich, verlange künftig den Verzicht auf vieles dessen, was den meisten Menschen heute noch als zivilisatorische Errungenschaft erscheint.

Mit kritischer Theorie hat all das schon deshalb nichts mehr viel zu tun, weil diese für die Verteidigung von Freiheit einstand, die sie »einzig unter gesellschaftlichen Bedingungen entfesselter Güterfülle« für möglich hielt.[14] Zur Natur des Menschen gehöre es nämlich, »aus Naturzwang […] jenes Zwangsmechanismus sich zu entäußern«,[15] als den ihm Natur gegenübertrete, obwohl er doch selbst Produkt von Naturgeschichte sei. Daraus erwächst der Doppelcharakter des Menschen als naturbeherrschendes Naturwesen. Treibt für Adorno der »Verblendungszusammenhang des Fortschritts […] über sich selbst hinaus« und sind ihm »die Verwüstungen, die der Fortschritt anrichtet, allenfalls mit dessen eigenen Kräften wieder gutzumachen«,[16] dekretiert man heute so autoritativ wie alternativlos, was Menschen künftig noch erlaubt sei, vor allem aber: was nicht. Und damit durchgesetzt werden kann, was Lessenich als richtig und falsch verkündet, tritt bei ihm an die Stelle des Naturzwangs sogleich und gänzlich unvermittelt die Staatsgewalt, deren »aktives Eingreifen«[17] er wolkig zum »Übergang von der planenden zur spekulativen Rationalität«[18] verklärt. Hinsichtlich der Verklärung des Staats zu einer tendenziell rationalen Planungsinstanz gibt es zwischen der Anschauung eines Oskar Lafontaine, mit dem er in Sachen Nationalstaat ansonsten wenig gemein haben will, bis auf die Wortwahl kaum Unterschiede.

Wo Verzicht wieder als Tugend und Egoismuskritik als Solidarität in schwerer Zeit gilt, werden auch die Invektiven deutlicher: »Mit sich selbst als gefühltem Zentrum des Universums kann man der Illusion anhängen, dass nur man selbst, nur die eigenen Bedürfnisse und Meinungen zählen, dass weder der Staat noch andere das Recht haben, mit Verbot und Verzichtsaufforderung auf das Individuum einzuwirken«, so der in Berlin lehrende Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit Philipp Lepenies.[19] An solcher als Kritik des Neoliberalismus daherkommenden deutschen Unterwerfungsfantasie ist besonders bösartig, dass sie dem Individuum allein die egoistische Beschränktheit anlastet, zu der es in der falschen Ordnung tagtäglich im Predigtton genötigt wird. Stattdessen geht es um die Trägheit der Einzelnen, worin sich dann auch die neoliberale Denkform reproduziert, die der Anhänger des Ausnahmezustands den Verbotsmuffeln unterstellt.

In seinem Buch Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft will auch der Soziologe Philipp Staab beispielhaft auf einen »positiven Begriff der Anpassung« hinaus. Angesichts aktueller Krisen habe man die Gesellschaft von individueller Selbstentfaltung auf kollektive Selbsterhaltung umzupolen. Die Not macht erfinderisch: Die Verabschiedung des Prinzips der »grenzenlosen Entfaltung des Subjekts« impliziere eine »Perspektive der Befreiung«, denn »mit dem Verzicht auf Fortschritt wird das spätmoderne Subjekt auch von der Verantwortung für das unglaubwürdig gewordene Projekt gesellschaftlicher Perfektionierung entlastet.«[20]

Das Gerücht gegen die angeblich maßlose Freiheitsliebe der Einzelnen, der selbstherrlichen Subjektivismus nicht mit seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit konfrontiert, sondern volkspädagogisch gemustert, geht einher mit der Parteinahme für technokratische Krisenlösungsstrategien: Angesichts nie dagewesener Krisen gelte es von individueller Selbstentfaltung, auf die angeblich das Handeln der Einzelnen ausgerichtet sei, auf kollektive Selbsterhaltung umzusteigen und sich mit »evidenzbasierter Technokratie« anzufreunden. Der einzelne Mensch habe sich dem von Experten legitimierten Diktat der Krisenpolitik zu beugen, habe zu verzichten, sich auf Natur und ihren Schutz zu besinnen und soll in kärglicher Trostlosigkeit genügsam bleiben.

Materielle Basis der soziologischen Besinnungsliteratur ist die Deindustrialisierung und Transnationalisierung der Produktion, welche die Handlungsmacht der Arbeiter untergräbt. Der Staat des Kapitals, der die Asozialität befeuert und gleichzeitig seine autoritativen Befugnisse erweitert hat, steht umso mehr vor der Herausforderung, das Menschenmaterial biopolitisch zu verwalten. Die verlangte Anpassung, die beseelte Fortschrittsmenschen mit notorisch gutem Gewissen fordern, ist eine an die staatliche gelenkte Fluidität des Kapitals.

Ethisches Theater

Pünktlich zum Institutsjubiläum ist in der Zeitschrift Soziologie unter dem Titel »Petite Auberge Aufbruch« eine Programmschrift erschienen, in der Lessenich seine Vorstellung eines Instituts »am Puls der Zeit« expliziert.[21] Es wird schwer romantisch und dabei drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass die Bemühung, beim Leser mittels einer Überdosis Gemeinschaftskitsch Begeisterung auszulösen, über die Trostlosigkeit des studentischen Alltags hinwegtäuschen soll, zu dem es anscheinend zählt, das der Professor nun auch noch das Abendprogramm kreieren muss, weil die an stramme Betreuungssettings gewöhnten Studenten nicht nur politisch desorientiert sind: »Das Institut für Sozialforschung soll, so meint das im Klartext, sich in Zukunft als offenes Haus verstehen und als solches auch wahrgenommen werden: offen für Neues, für Impulse von außen, für die Fragen der anderen. Offen für Studierende und für die Stadtgesellschaft, für Kulturproduzent:innen und Bewegungsakteure, für Gesellschaftskritik ›von unten‹ und aus allen Winkeln der Welt. Den Bau in der Senckenberganlage ganz physisch und material als einen Möglichkeits- und Ermöglichungsraum zu begreifen, ihn auf eine Weise zu bespielen, die der politisch-sozialen Bedeutung kritischer Wissenschaft in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche gerecht zu werden versucht, wird das oberste Gebot einer Institutskultur sein, die den akkumulierten Kommunikationsbedarf und den aufgestauten Geselligkeitsdrang der Corona-Ära operativ aufzunehmen und produktiv zu wenden weiß. Im besten Fall nehmen die öffentlichen Aktivitäten eines solchen Forums für praktisch werdende kritische Theorie Momente und Motive des epischen Theaters auf, regen sie zum Denken und Handeln an – auf allen Seiten. Dann berichten, so imaginiere ich die Situation, auf der Dachterrasse des Instituts an einem lauen Sommerabend, mit allmählich abebbender Verkehrsgeräuschuntermalung und aufflackernder Hochhausbeleuchtung als Kulisse, Forscher:innen des IfS aus Fallstudien und Feldaufenthalten, von Gruppendiskussionen und Theoriereflexionen – und nicht nur die interessiert Zuhörenden, Nachfragenden und Kommentierenden, sondern auch die Berichterstattenden selbst ›erinnern sich an ihre Kämpfe vom Vormittag‹ (Brecht).«[22]

Ob uns am 03.06.2023 ein lauer Sommerabend erwartet, wissen wir nicht. Verkehrsgeräusche sollten sich im Saalbau Schönhof jedoch verhindern lassen und ausgeschlafene Zuhörer sind uns im Zweifelsfall lieber als vom Kampf des Vormittags zerzauste. So oder so laden wir auf der Grundlage mehrerer Vorträge zur Genese und zum Gehalt Kritischer Theorie und zur Verfasstheit der zeitgenössischen Gesellschaft zur Diskussion.

Thunder in Paradise


[1] »Institut für Sozialforschung hat seit 100 Jahren eine wichtige Rolle für lebendige Demokratie«, auf:

hessen.de, 23.01.23, online unter: https://wissenschaft.hessen.de/presse/institut-fuer-sozialforschung-hat-seit-100-jahren-eine-wichtige-rolle-fuer-lebendige-demokratie

[2] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 56.

[3] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=490QDnbvjBM (von 33:48 an).

[4] Ebd. (von 34:15 an).

[5] Irina Djassemy: Der »Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.

[6] Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 107.

[7] Theodor W. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, München: dtv 1993, S. 53.

[8] Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, Berlin: Suhrkamp 2022, S. 36.

[9] Ebd. S. 86.

[10] Ebd. S. 91.

[11] Ebd. S. 131.

[12] Ebd.

[13] Ebd., S. 83.

[14] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 218.

[15] Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, a.a.O., S. 195.

[16] Ebd., S. 224.

[17] Lessenich: Nicht mehr normal, a.a.O., S. 42.

[18] Ebd., S. 50.

[19] Philipp Lepenies: Politik und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens, Berlin: Suhrkamp 2022, S. 250.

[20] Philipp Staab: Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2022.

[21] Stephan Lessenich: »Petite Auberge Aufbruch. Zu den Möglichkeitsräumen kritischer Sozialforschung heute«, in: Soziologie, Jg. 51, H. 2 (2022), S. 115–126, online unter: https://soziologie.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/volltexte/Lessenich_SOZIOLOGIE_Heft2_2022.pdf

[22] Ebd., S. 123.

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