Dokumentation unserer Rede bei der Kundgebung des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel, die am 18. Juni 2022 vor dem Hauptgebäude der documenta abgehalten wurde. Eine vollständige Dokumentation aller Redebeiträge findet sich hier.
Im Fall der documenta hat man es mit einem Milieu zu tun, in dem ein sich als progressiv missverstehender Antisemitismus gegenwärtig wohl am stärksten und dreistesten um sich greift: dem deutschen Kulturbetrieb. Aktuell zeigt sich dessen Antisemitismuskomplex wieder in der Einladung mehrerer BDS-Unterstützer zur 15. Auflage der documenta. Vor allem die Künstlergruppe ruangrupa, die als Kuratorenteam der documenta mit Vorliebe für die heimatliche Scholle fungiert, tat sich als safe space für Israelfeinde hervor. Deren von postmoderner Seite als natürlich verklärte und gefeierte vermeintliche Ursprünglichkeit ist der Ausgangspunkt für einen archaischen Traditionalismus, der sich in der künstlerischen Tätigkeit des Kollektivs Bahn bricht. Passend dazu hat die ruangrupa auch umstandslos ein gemäß der Homepage der documenta »stetig wachsendes Kollektiv Kulturschaffender und Community Organizer aus Palästina« mit dem vielsagenden Namen The Question of Funding nach Kassel eingeladen. Dessen Vertreter sind nicht grade erpicht auf jüdische Nachbarn, weshalb der Sprecher der Gruppe sich nicht »bloß« für BDS einsetzt, sondern in Interviews offen das Ende der Existenz Israels fordert. Dass Israel immer wieder als künstliches Gebilde und Zerstörer ursprünglicher Gemeinschaft von jenen attackiert wird, die gesellschaftliche Regression als Utopie anpreisen, ist indes kein Zufall: Indem Israel den Antisemitismus bekämpft, verteidigt das Land die Zivilisation, die den Gedanken beinhaltet, dass es auf den Einzelnen nicht bloß als Mitglied von Not- und Schicksalsgemeinschaften ankommt.
Die Einladung des Kollektivs A Question of Funding ist nun bei Weitem nicht das einzige Beispiel für die weitgehende Akzeptanz und Förderung antisemitischer Positionen im deutschen Kulturbetrieb. Der hier rebellisch daherkommende und deshalb angesagte Antisemitismus kann sich in einem kultur- und identitätssensiblen, von postmodernen, postkolonialen und queeren Diskursen geprägten Umfeld sicher sein, sich keinem heftigen Widerspruch aussetzen zu müssen. Die Israel- und Kapitalismuskritiker auf der documenta erhalten stattdessen Rückendeckung von einem Milieu, in welchem solcherlei Haltungen, wenn nicht als chic, so doch zumindest als legitimer Ausdruck authentischer Marginalisierungserfahrungen gelten. In diesem Milieu werden Erklärungen wie die der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit verfasst, mit dem Ziel, gegen die BDS-Resolution des Bundestages den »Diskursraum« für die Verdammung des jüdischen Staates auch weiterhin offenzuhalten. Damit es so weit kommt, dass sich in Deutschland vierzehn führende Kultureinrichtungen zusammenschließen, um einen Beschluss des Bundestags zu kritisieren, muss es schon um den Antisemitismusbegriff gehen. Dessen Verteidigung gegen den expliziten Einschluss des Antizionismus scheint vordringlichstes Ziel deutscher Kulturbetriebler zu sein. Nicht zufällig wurde die eben genannte Initiative mit dem sperrigen Titel für die antisemitische Boykott- und Sanktionsbewegung vom Generalintendanten des Humboldt-Forums, Hartmut Dorgerloh, gestartet. Dorgerlohs Äußerungen sind regelmäßig ein Paradebeispiel für die besinnungslose Phrasendrescherei der gegenwärtigen Kulturszene und die selbstgerechte Schamlosigkeit derjenigen, die ihr Menschenrecht auf Israelkritik durch die BDS-Resolution bedroht sehen. Die Chuzpe, die nötig ist, um von Weltoffenheit und Selbstreflexion zu schwafeln, während man in seiner Freizeit Plädoyers für die »Kauft-nicht-bei-Juden«-Bewegung des 21. Jahrhunderts verfasst und das auch noch für fortschrittlich hält, lässt sich wohl nur durch jahrelange Abstumpfung im zeitgenössischen Kunst- und Kulturdiskurs erklären.
Ein Beispiel: Im September 2020 wagte sich die für dieses Feld durchaus repräsentative Zeitschrift Texte zur Kunst ehrenwerterweise an das Thema BDS. In der Ausgabe wurde der konstitutiv antisemitische Charakter der im eigenen Milieu hohes Ansehen genießenden Bewegung von ihren Ursprüngen an nachgezeichnet. Es dauerte nicht lange, bis die Freunde des Israelboykotts die zarten Sprossen vernunftgeleiteter Intervention dekolonial niedermähten. Dieser Boykott müsse insgesamt differenzierter betrachtet werden, so die im Angesicht des Israelhasses auf Ausgewogenheit pochenden BDS-Apologeten in ihrer Stellungnahme im Postskriptum.[1] Die im Heft nahegelegte Identifikation der von angeblich »durchaus heterogenen Kräften« getragenen Organisation mit Antisemitismus sei »politisch fatal«. Zudem wurde bemängelt, es kämen zu wenig »arabische und palästinensische Stimmen« sowie Gegenpositionen von Juden und Israelis zur Einschätzung von BDS als antisemitisch vor. Hierin drückt sich nicht nur das in postkolonial-akademischen Kreisen weit verbreitete identitäre Ticketdenken und eine Sprechort- und Betroffenheitslogik aus (was die Autoren meinen, sind palästinensische bzw. arabische BDS-Unterstützer). Auch der damit verbundene und kaum verhohlene Wunsch nach jüdischen Kronzeugen gegen Israel wird überdeutlich. Substantielle Kritik am linken Antisemitismus soll von vornherein durch einen solchen relativierenden Meinungspluralismus verunmöglicht werden. Auch fehlte nicht die Warnung vor einer »Auseinanderdividierung linker Positionen« im Zuge der Kritik an BDS. Aus dieser ziehe schließlich »die global Triumphe feiernde, ethno-nationalistische Rechte […] einen Teil ihrer Dynamik«. Die Kritik des Antisemitismus, der von den im Statement vertretenen Autoren nie im eigenen Milieu gesucht wird, hat also hinter den alles bestimmenden Abwehrkampf gegen rechts zurückzutreten — Spalter, wer anderes behauptet.
In besagter Zeitschrift findet sich auch ein Plädoyer von Micha Brumlik für das unter Kunst- und Kulturwissenschaftlern schwer angesagte »multidirektionale Erinnern«. Ausgangspunkt ist die Behauptung, die Beschäftigung mit der Shoah und das Herausstellen ihrer spezifischen Merkmale gegenüber anderen Genoziden und vor allem den Kolonialverbrechen behindere eine Auseinandersetzung mit diesen. Zugrunde liegt die unter postkolonialen Theoretikern verbreitete Annahme, dass dem Gedenken an den Holocaust im Westen und vor allem in Deutschland nur deshalb so viel Platz eingeräumt werde, weil es sich bei den Opfern um weiße Europäer gehandelt habe. Dass die Verfechter des multidirektionalen Erinnerns meist die Einzigen sind, die das Holocaustgedenken und die Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen gegeneinander ausspielen, zeigt, worum es eigentlich geht: Die Relativierung des Holocaust wird nicht mehr, wie in den 1980er Jahren, von reaktionären Historikern wie Ernst Nolte betrieben. Sie ist heute Projekt einer links, postkolonial und kultursensibel daherkommenden akademischen und kulturellen Avantgarde.
Auch die Feuilletondebatte um die Ruhrtriennale, welche 2020 den postkolonialen Theoretiker und BDS-Unterstützer Achille Mbembe als Eröffnungsredner einlud, zeigt, wie sich gegenwärtig antizionistischer Progressivismus und postmoderne Antirassismus-Debatten die Hand reichen. Die Kritik an der Einladung wurde vom Referenten und seinen Verteidigern als »Silencing« einer »Person of Colour« abgewehrt. Ähnliche Argumente hat man auch im Zuge der documenta-Debatte gehört. Hieran wird deutlich, wofür die hiesige Kunstszene solche angeblich marginalisierten Stimmen mit Publikationen im Suhrkamp-Verlag und akademischen Weihen benötigen: Sie plaudern aus, was man sich selbst nicht zu sagen traut, und ihre Ansichten werden als vermeintlich rassistisch unterdrückte Perspektiven, denen man ja Gehör verschaffen müsse, legitimiert. Unbedingt verachtenswert ist dieses besonders deutsche, zumeist demonstrativ bildungs- und kunstbeflissene Milieu, das die notorisch antirassistische und damit im Regelfall israelkritische Völkerverständigung auf einschlägigen Kunstevents konsumiert. Dabei nimmt es den Hass auf Israel freudig zur Kenntnis, und, wenn es darauf ankommt, beschwichtigend in Schutz. Seine Repräsentanten in Fernsehen und Politik schwadronieren nicht mehr von Kindermördern, sondern pochen im Angesicht des wachsenden militanten Antisemitismus auf Ausgewogenheit, Differenzierung und Fakten. Diesem Milieu ist es gelungen, die gut recherchierte Kritik an der documenta an den Rand zu drängen, so dass alles seinen gewohnten Gang gehen kann.
Dafür, dass sich an diesen Verhältnissen in Zukunft nichts ändert, sorgt auch die Bundesregierung. Mit Claudia Roth wurde eine Politikerin zur Staatsministerin für Kultur und Medien ernannt, die sich in der Debatte um die diesjährige documenta hauptsächlich durch abstrakte Bekenntnisse zur Kunstfreiheit oder gewohnt routinierte Verurteilungen des Antisemitismus hervortat. Agiert werden solle aber erst, wenn es auf der documenta tatsächlich »zu Antisemitismus kommen sollte«. Wir sind gespannt. Der BDS-Beschluss der Bundesregierung jedenfalls darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass im staatlich subventionierten Kulturbetrieb de facto auch weiterhin ausgewiesenen Antizionisten eine Förderung zukommt. Die Frage stellt sich aber, weshalb der deutsche Staat überhaupt einen ökonomisch und auch ästhetisch eher dürftigen Kunstbetrieb auszuhalten bereit ist. Man denke hier bloß an die teils unfreiwillig komischen antikapitalistischen Pappaufsteller auf Grundschulniveau, die nun in Kassel platziert wurden. Oder an die nicht nur politisch geschmacklose Collagenserie eines Künstlers aus Gaza, welche, wie der Name »Guernica — Gaza« schon nahelegt, die IDF in die Nähe von Nazis und italienischen Faschisten rückt. Eine Antwort bietet ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 2017. Aus diesem geht hervor, was Kulturförderung im weltoffenen und toleranten Deutschland heute bedeutet: »Kulturelle Vielfalt ist für eine offene Gesellschaft unverzichtbar und die Förderung von Kunst und Kultur elementar für die Stärkung unserer Demokratie. […] Primäres Ziel von Kulturförderung ist es deshalb, kulturelle Vielfalt zu sichern und den Zugang zu kulturellen Angeboten für möglichst viele Menschen zu gewährleisten«, heißt es da. Der Antrag, welcher einen umfangreichen Forderungskatalog enthielt, wurde zwar abgelehnt; dass Kultur und ihre Förderung heute vor allem unter dem Stern der Diversität zu stehen haben, dürfte aber zumindest im Kultursektor selbst größtenteils unstrittig sein. Der Mehrwert dieser Kulturpolitik besteht für den deutschen Staat darin, sich auch weiterhin als Hort der Toleranz und Vielfalt inszenieren zu können. Wenn unter den geförderten Vertretern kultureller Diversität verlässlich offene Feinde des jüdischen Staates sind, deren Anwesenheit im hierzulande ebenso verlässlich antizionistisch eingestellten Kunstbetrieb die Allerwenigsten stört, sieht man unterdessen nicht so genau hin.
Thunder in Paradise
[1] https://www.textezurkunst.de/articles/zur-debatte-um-texte-zur-kunst-heft-119/