Vortrag & Diskussion mit Clemens Nachtmann (Graz)
29.Januar 2022, 19:00 Uhr, Saalbau Griesheim, Schwarzerlenweg 57
Der »soziale Kapitalismus« vor 1989 bezog seine Legitimation daraus, daß er in strikter Gegnerschaft zum »realen Sozialismus« sich zugleich als jenes Gesellschaftssystem präsentierte, das die Ziele, für die der Sozialismus eintritt, besser und effektiver zu erfüllen vermag: daß kein Einzelner den Launen weder der ersten noch der zweiten Natur einfach ausgeliefert sein soll, sondern daß dafür gesorgt ist, daß niemand durch schlechte Arbeitsbedingungen, durch Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. in Not gerät, daß darüberhinaus alle durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten können und Zugang zu Bildung und Kultur haben. Dementsprechend nahm der Staat die formell weiterhin freie Kapitalakkumulation de facto in politische Regie, betrieb aktiv Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Kulturpolitik und die ehemals liberalen Staaten des Westens nahmen allmählich das Gepräge einer »verwalteten Welt« an, wie Adorno und Horkheimer den organisierten Kapitalismus nannten.
Im Laufe der letzten 30 Jahre wurden diese Ziele und die damit verbundene Perspektive auf einen zumindest gesicherten, wenn nicht sogar stetig steigenden Lebensstandard für die breite Masse aufgegeben, ohne daß eine neue Legitimation an deren Stelle getreten wäre. Darin scheint der rein destruktive Charakter des »postmodernen Kapitalismus« auf, der kein neues »Stadium« und noch nicht einmal ein neues Akkumulationsregime darstellt, sondern ein permanentes, von Soziologen vornehm als »Disruption« bezeichnetes Abwrackunternehmen, das die Entgrenzung sowohl des fungierenden Kapitals als auch der Subjekte, die ihm als Arbeitskräfte unterstellt sind, propagiert und betreibt. Dabei werden längst nicht mehr nur bestimmte materielle Ansprüche (wie früher etwa Lohnforderungen von Gewerkschaften) als überzogenes »Anspruchsdenken« diskreditiert – mittlerweile wird die gesamte »bürgerliche Gesellschaft« selbst in allen ihren Facetten bei jeder sich bietenden Gelegenheit offensiv delegitimiert und als Hindernis für wahlweise den »digitalen Wandel«, die »Klimagerechtigkeit« oder die »Nachhaltigkeit« dingfest gemacht und zur Disposition gestellt. Allen Individuen und gesellschaftlichen Milieus, die der propagierten Entgrenzung im Weg stehen oder sich ihr gar entgegenstellen, wird der Kampf angesagt – und umgekehrt bringt sich auf diese Weise eine neue Elite in Stellung, die von der gesellschaftlichen Entgrenzung entweder unmittelbar profitiert oder darauf spekuliert, es künftig zu tun.
Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive hat sie dabei nicht anzubieten bzw. nur noch in pervertierter Gestalt: die faktische Perspektivlosigkeit, in der sich das Kapital und kapitalistisch verfaßte Gesellschaften nach dem Ende der Systemkonkurrenz befinden und für den die neue Elite einsteht, wird mittlerweile selber in die vollends negative »Perspektive« umgemünzt, daß keiner von der Gegenwart und erst recht von der Zukunft mehr etwas zu erwarten hat und auch gefälligst nicht mehr erwarten soll. Anders gesagt: Die einzige Perspektive, die dem Einzelnen noch geboten wird, ist die, sich genauso wie das grenzenlos fluide globalisierte Kapital jederzeit verfügbar und zu allem bereit zu zeigen und sich in seiner Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere von keinen Grenzen: keinen gesellschaftlichen oder nationalen und nicht einmal von denen des eigenen Körpers behindern zu lassen. Die tagtäglich und lebenslang betriebene Selbstzurichtung als künstlerischen Akt und politischen Aktivismus zu zelebrieren und als moralisches Gebot zu verkünden ist der stereotype Gehalt aller »woken« Propaganda der Gegenwart. Das Corona-Maßnahmenregime seit dem März 2020 hat dieser gesellschaftszerstörenden Politik und der durch sie geförderten Bereitschaft zur subjektiven Enthemmung zusätzlichen Auftrieb verschafft.
Der Vortrag versucht die Grundzüge einer »postmodern« ideologisierten Abwrackpolitik nachzuzeichnen, die unter Berufung auf scheinbar unanfechtbare moralische Werte die Grundlagen menschlicher Gesellung und organisierter Gesellschaftlichkeit überhaupt infrage stellt – und damit erst recht jene Krise entfesselt, die durch diese Politik hintangehalten werden soll. Dabei wird die moralisierende Politik selbst und das zunehmend eifernde, sektenhafte und unduldsame, kurz: »woke« Gebaren ihrer Vollstrecker auf ihre objektiven Bedingung zurückgeführt, die sie ermöglicht: auf jenes »höhere Wesen«, dem täglich in einem profanen Kult Sachmittel und individuelle Lebenszeit, Energie und Fähigkeiten geopfert werden, die es zu seiner Selbsterhaltung und Selbstvermehrung benötigt und das als Inbegriff von Ungesellschaftlichkeit, als »asoziale Sozialität« von sich aus prinzipiell keine Rücksicht auf empirische Lebensverhältnisse nimmt: das Kapital.
Weil man dies niemandem mehr umständlich erklären muß; weil die Dinge heute so offen zutage liegen wie kaum je zuvor und die einfache alltägliche Erfahrung fast schon hinreicht, um die banalen Grundlagen der zugleich entgrenzten und betreuten Welt zu erfassen, ist bei dem Vortrag mit bahnbrechenden neuen Erkenntnissen oder gar »neuen Ansätzen« sicherlich nicht zu rechnen; vielmehr wird es darum gehen, das was offensichtlich ist, zusammenzutragen und zu einem lesbaren Bild zusammenzulegen. Und dabei wird es nicht zuletzt darum gehen, ohne alle polit-strategischen Erwägungen den Blick zu richten auf die Verfaßtheit und die Maßstäbe jener »bürgerlichen Gesellschaft«, der die »Woken« aller Couleur längst den Krieg erklärt haben.
Clemens Nachtmann ist Komponist und Autor. Er unterrichtet Musiktheorie und Gehörbildung an der Kunstuniversität Graz und veröffentlicht u.a. in der Zeitschrift Bahamas.
Eintritt: 3€.
Die Teilnahme ist auf maximal 100 Personen beschränkt. Es gelten die jeweils aktuellen Verordnungen des Landes Hessen und der Stadt Frankfurt.
Die Veranstaltung ist Teil der Vortragsreihe Staat – Gesundheit – Subjekt.