Der entgrenzte Staat. Kritik der Biopolitik

Vorträge & Diskussion mit Thunder in Paradise (Frankfurt a.M.)
14. Mai 2022, 19:00 Uhr, Saalbau Titus-Forum, Walter-Möller-Platz 2

In der Corona-Pandemie ist eine autoritäre Disposition zum akuten Syndrom ausgewachsen, die auf eine tiefe Krise der Subjektivierung verweist. Die Erosion hergebrachter familialer Erziehungsinstanzen schafft Platz für den Staat, der – immer repressiv und produktiv zugleich – die Elternfunktion ausfüllen soll. Das Bedürfnis nach fürsorglicher Führung, klaren Regeln und billig zu habender Anerkennung wächst umso mehr, je mehr der Staat die Bürger, die es schon lange nicht mehr miteinander aushalten, per Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen zusammenpfercht. Wo keine Aussprache mehr möglich ist, wächst die Sehnsucht nach einer Autorität, die so wenig verhandelt wie das Virus selbst.

Das kampagnenpolitisch umgesetzte Regierungshandeln nimmt wie nur selten zuvor das Alltags- und Privatverhalten der Bürger ins Visier. An alle richtet sich heute ein aufdringlicher Paternalismus, mit dem früher vor allem ausgemachte Problemgruppen drangsaliert wurden. Für die aktivierenden Staatsapparate ist das Individuum per se zum Risikofaktor geworden, der als motivationspsychologisch zu begleitender Betreuungsfall behandelt werden muss, um ihn der gewünschten Bevölkerungsstatistik gemäß einzunorden.

Die Drastik, mit der Bevölkerungs- als Gesundheitspolitik die Einzelnen animiert, sich »mit Haut und Haar« in den Dienst der herrschenden Interessen zu stellen, verdeutlicht nicht zuletzt die Bejubelung der Pläne, die noch Unfolgsamen unter Strafandrohung medizinischen Eingriffen zu unterziehen. Foucault hatte seinerzeit dargelegt, wie sehr der Körper »zu einem der Hauptzielpunkte für den staatlichen Eingriff und zu einem der großen Gegenstände geworden« ist, »für den der Staat selbst die Verantwortung übernehmen muss«. Arbeit ist als unmittelbar produktive Tätigkeit »Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw.« (Marx), deren Qualitäten im Prozess der Subsumtion unters Kapital immer neuen Erfordernissen angepasst werden müssen. Wo heute ideologische Konformität Produktivkraft ist, zählt die Bereitschaft, sich auf der Grundlage der Sorge ums Ganze, personaler Bindung und intimem Geständniszwang pastoral führen zu lassen. Hierauf reflektieren Foucaults gesellschaftstheoretische Begriffe von »Biopolitik« und »Gouvernementalität«, ohne den Zusammenhang innerhalb der kapitalen Vergesellschaftung zu entfalten.

Während die allgegenwärtigen Kontroll- und Präventionsprozeduren immer stärker den düsteren Diagnosen Foucaults zu entsprechen scheinen, reihen sich dessen akademische Multiplikatoren jedoch massenhaft in der »ZeroCovid«-Anhängerschaft ein, denen der rein statistisch orientierte Lebensschutz nicht weit genug geht. Der Vortrag wird zeigen, dass auch die Forderung nach einem »solidarischen Shutdown« mit »ZeroCops« (Daniel Loick) jedoch keine antiautoritäre Alternative darstellt, sondern die erträumte Mobilmachung von »Zivilgesellschaft«, »solidarischen Initiativen« und »Nachbarschaftsgruppen« nur eine Radikalisierung des Prozesses bedeutet, in dem der Staat als formales Recht setzende Gewalt sich zum Flickwerk moralisch motivierter Notstandsgemeinschaften entgrenzt. Zumindest in diesem Punkt sind sich »ZeroCovid«-Aktivisten mit ihrem foucaultianischen Gegenspieler Giorgio Agamben einig, der die biopolitische Katastrophe als Katalysator eines neuen Ethos herbeisehnt, auf dass die Menschen im ewigen Lockdown ein frei gewähltes Schollendasein in Selbstversorgung und Verzichtsbereitschaft führen, ohne dass irgendeine politisch-juridische Ordnung sie noch dazu zwingt.


Eintritt: 3€.


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Die Veranstaltung ist Teil der Vortragsreihe Staat – Gesundheit – Subjekt.

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