Vortrag & Diskussion mit Anna Sutter (Berlin)
9. April 2022, 19:00 Uhr, Saalbau Titus-Forum, Walter-Möller-Platz 2
Dass in immer kürzeren Abständen mit Tabubrüchen Tatsachen geschaffen werden, ist seit Ausrufung des Ausnahmezustandes der Normalzustand. Möglich waren und sind flächendeckende Schul- und Betriebsschließungen, Ausgangssperren und Zugangsregelungen, die mittels digitaler Gesundheitspässe kontrolliert werden, nur in einer Gesellschaft, die, während sie in früheren Jahren noch hinter vorgehaltener Hand ihre eigene Abschaffung herbeisehnte, im März 2020 offen suizidal geworden ist.
Als Rechtfertigungsfigur für diese Corona-Politik diente von Anfang an der Verweis auf die Wissenschaft, monolithisch im Singular auftretend, oder die im Plural als übermächtige Masse beschworenen Fakten. Diese werden von den Apologeten des objektiven Wahns auf der einen Seite verabsolutiert, auf der anderen bloß instrumentell gegen den politischen Feind eingesetzt und je nach tagesaktueller Stimmung vergessen und durch neue ersetzt. Es ist nicht nur, aber in besonderem Maße die Mittelklasse an der Akademie und im Medien- und Kulturbetrieb, welche auf diese Weise seit fast zwei Jahren mit erbitterter Härte gegen »Fake News«, »Verschwörungsmythen« und »Coronaleugner« vorgeht. Damit beruft sich ausgerechnet eine Fraktion auf naturwissenschaftliche Experten, die diese vor nicht allzu langer Zeit, wenn es etwa um Debatten zum biologischen Geschlecht ging, misstrauisch beäugte oder gar pauschal als Vertreter eines hegemonialen, heteronormativen Diskurses denunzierte. Dieser Widerspruch ist nur scheinbar einer. Es gilt, den leeren Subjektivismus, der sich in der Vorstellung von Geschlecht als einem voraussetzungslosen Setzungsakt des Einzelnen ausdrückt, als die Kehrseite des blinden Objektivismus »seit Corona« zu begreifen. Gemeinsam haben beide den Verzicht auf einen emphatischen Wahrheitsbegriff. Wir haben es heute mit einem Menschentypus zu tun, dem es, wie es in einer Notiz von Max Horkheimer aus den Jahren 1955/56 heißt, »gar nicht darauf an[kommt], was wahr oder falsch ist, sondern vielmehr darauf, seine Stellung zu halten und seine Gesundheit zu bewahren.«
Der Vortrag ist ein Versuch, die Genese dieses Menschentypus in Hinsicht auf die Rolle, die ihm das Faktische spielt, skizzenhaft nachzuzeichnen. Ansatzpunkt bildet die bei Luther und Calvin angelegte Trennung von Wissen und Glauben. Ist das empirische Faktenwissen, Domäne subjektiver Vernunft, einmal klar von Gott als einstmals heilsversprechender Wahrheit geschieden, so verliert letztere ihre Qualitäten; sie erweist sich als nicht mehr rational verständlich, sondern nur noch einem paradoxen Glaubensbekenntnis im Sinne des »credo, quia absurdum est« zugänglich. Parallel zur gesellschaftlichen Depotenzierung der Wahrheit verläuft ihre Entmythologisierung: Im Versuch, Gott zu retten, entkleidete ihn aufgeklärte Theologie aller unglaubwürdig gewordenen sinnlichen Attribute. Ein vergleichbarer Prozess hat aufseiten der empirischen Fakten stattgefunden.
Während etwa Diderots Werk geprägt war von fließenden Übergängen zwischen naturwissenschaftlicher Spekulation und Bemerkungen über Speis, Trank und Geselligkeit, hat man es heute im Falle der Epidemiologie mit einer Disziplin zu tun, die vom konkret-sinnlichen Menschen absieht. Ihre Ergebnisse (Inzidenzen, R-Werte, Wachstumsraten) werden als isolierte Kennzahlen jeden Tag aufs Neue konsumiert und fanatisch überhöht statt denkend auf das Ganze bezogen. Materialistische Kritik muss gegen diese politisch interessierte Faktenhuberei scharfen Einspruch erheben – einer Wahrheit verpflichtet, die wenn überhaupt, dann nur als leiblich erfüllte sein könnte.
Anna Sutter wagt es seit der Abschaffung der sogenannten »Präsenzlehre« nicht mehr, sich als Studentin zu bezeichnen. Sie arbeitet zum vormarxistischen Materialismus und zur Rolle der Theologie in der Kritischen Theorie und hat in der Broschüre Der Erreger. Texte gegen die Sterilisierung des Lebens publiziert.
Eintritt: 3€.
Die Veranstaltung ist Teil der Vortragsreihe Staat – Gesundheit – Subjekt.